nature writing

Nature writing ist ein vielfältiges, fast unübersichtliches Genre, das in der Klimakrise neue Aufmerksamkeit erfährt. Am leichtesten sind Texte in dieser Tradition am Bezug zu Henry David Thoreau zu erkennen. Der Amerikaner von der Ostküste verbrachte Mitte des 19. Jahrhunderts zwei Jahre am Walden Pond, einem Teich am Rand seiner Heimatstadt Concord. Er lebte dort allein, in spartanischen Verhältnissen, schrieb Alltag und Naturbeobachtungen nieder. In wildness is the preservation of the world - das Zitat macht deutlich, dass es Henry David Thoreau mitten in der wirtschaftlichen Umbruchphase während der Industrialisierung nicht Natur allein, sondern genauso um ihre Beziehung zur Welt der Menschen ging. Er beklagt die stille Verzweiflung der Massen und empfiehlt die Einfachheit des "wirklichen" Lebens in der Wildnis.

Damit sind die Themen des nature writings gesetzt: Es geht um authentische Naturerfahrung, um neue Formen der Wahrnehmung, die oft durch stark reduzierte Bewegungsradien und extrem verlangsamte Beobachtung erreicht werden. Nature writing steht im Spannungsfeld der Herausforderung, die Erde und ihre Phänomene wie Wind, Wetter, Licht, Pflanzen, Tiere oder Gestein zu beobachten und fachlich korrekt zu bezeichnen bis hin zu poetischen und politischen "Übersetzungen", mit denen eine breite Leserschaft der Entfremdeten neue Zugänge in die Natur findet.

In der Definition des Literaturwissenschaftlers und Naturtheoretikers Ludwig Fischer - zitiert von Elvira Steppacher in Aviso, 3/21 - umfasst das Genre »Werke, die eine genaue Erkundung von Natur und Landschaft auf literarisch anspruchsvolle Weise vergegenwärtigen, was oft die Reflexion auf das erkundende Subjekt und auf das Mensch-Natur-Verhältnis mit einschließt.« (Natur im Sinn, Berlin 2019)

Politischer Ausgangspunkt ist im 19. Jahrhundert bis in unsere Zeit die Zivilisations-Fatigue bis hin zu ökologisch motivierten Depressionen (eco-anxiety), die auf dem Verzweiflung gegenüber dem überschießenden Materialismus und der Angst vor den Folgen des Klimawandels gründen.

Es gibt Schriftstellerinnen wie Jay Griffiths, deren Bücher in den Kanon des nature writing gezählt werden können, weil sie über Völker schreiben, die in enger Verbindung zur Natur leben. Zum Beispiel Nomaden oder Menschen mit Naturreligionen. Naturgemäß behandeln diese Bücher von Europa aus gesehen entlegene Regionen.

In Deutschland kommt nature writing nur verzögert und tröpfchenweise an. Zum einen gibt es keine starke Tradition des travel writing, des literarischen Reiseberichts, der oft als Mantel für die spezielle Form der Naturerkundung dient. Zum anderen wollen sich viele deutsche Schriftsteller, selbst wenn sie sich als Vertreter des nature writings sehen, radikal von der deutschen Romantik abgrenzen, die Naturwahrnehmung idealisierte, vermenschlichte, sich rückwärtsgewandt in die Klassik und ins Mittelalter orientierte und politische Missstände ausblendete. Abgetrennt von den eigenen literarischen Wurzeln ringen sie darum, das richtige Wort zu finden, eine neue Sprache zu entdecken, um zu sehen, was da ist (Helmut Salzinger), und Natur in einen zeitgemäßen politischen Rahmen zu setzen.

Während bekannte angelsächsische Schreiber wie Robert MacFarlane, Annie Dillard oder Edward Abbey in der Naturerkundung am Ende Heimat finden, das Typische eines amerikanischen Flüsschens in Virginia, oder Wüste in Utah, oder der englischen Hohl- und frühe Pilgerwege beschreiben, sind deutsche Vertreter ökologischer. Marion Poschmann findet ihr Sujet in Straßenbäumen, Ulrike Draesner erkundet die Insel Hiddensee im Takt ihrer Schritte.


Weiterführende Literatur:

Jürgen Goldstein, Die Natur in den Erscheinungsräumen der Sprache, Essay, Dritte Natur 1/2018, Matthes & Seitz

Ludwig Fischer, Natur im Sinn. Naturwahrnehmung und Literatur, Matthes & Seitz, 2019

Peter Braun, Caroline Rosenthal, Landmarken: Das Konzept des Bioregionalismus bei Gary Snyder und Helmut Salzinger, Zeitschrift für Germanistik, 2/2020

Mikael Vogel, Tier, Edition Poeticon #13, 2020

Daniel Falb, Anthropozän, Edition Poeticon #09, 2015

Nitzke Solveig, 54books, Wo bleibt die (gute) Literatur für die Gegenwart?, 04.11.2021, https://www.54books.de/wo-bleibt-die-gute-literatur-fuer-die-gegenwart-eva-menasses-imaginaerer-klimaroman/

Amitav Gosh - Die große Verblendung - I. GESCHICHTEN

Aviso, Magazin für Kunst und Wissenschaft in Bayern, Wie Kunst entsteht, 03/21, https://www.stmwk.bayern.de/download/21453_Aviso_21_3_web_V3.pdf

Helene Bukowski, Milchzähne, Blumenbar (Aufbau), 2019