Natassja Martin: An das Wilde glauben, Matthes & Seitz, Berlin, 2021. Original: Croire aux fauves, Éditions Gallimard,
Paris, 2019, aus dem Französischen Claudia Kalscheuer
Wieder eine Heilungsgeschichte, aber nicht in der Wildnis, sondern erst im russischen Militärkrankenhaus, dann in einer Pariser Klinik. Im Nebel der Schmerzen, der Angst und der Einsamkeit rekapituliert die Autorin, was eigentlich passiert ist - was sie dem Bären "zuführte", was den Kampf provozierte, was im Angriff passierte und wie der Zusammenprall sie zurücklässt - nicht nur äußerlich versehrt, sondern in einer anderen, neuen Identität, die sie nur im animistischen Weltbild der Wildnis in Kamtschtka beschreiben kann. Was mich fasziniert: wie die Sprache die Wirklichkeit zwischen Traum und tatsächlichen Ereignissen wiedergibt, mit Hilfe der Poesie und der ganz exakten, tief schürfenden Bewusstseinsspiegelung.

<< Meine Mutter hält stand, sie wird nicht schwach; meine Mutter begreift, dass ihre Tochter mit einem Wald verbunden ist und wieder in ihn eintauchen muss, um sich innerlich vollends zu heilen (...) Als sie (Marielle, eine Freundin, Anm. d. Autorin) von meiner Abreise erfährt, redet sie mit meiner Mutter, redet in deren Sprache mit ihr, der Sprache der Sterne und der Mythen, der Resonanzen und Korresprondenzen. Sie erinnert sie an Artemis und den Wald, ohne den sie sich auflösen würde. >> S.81f.
Biografie
Kein Wikipedia-Eintrag. Nichts über den ungewöhnlichen Vornamen, nichts über Sprachkenntnisse, nichts über die Herkunft oder den Beruf des Vaters. Zumindest nicht auf den deutschen Google-Seiten. Dafür über zwei Seiten Rezensionen aller großen Medien - ohne dass darin Näheres über das Leben der Autorin erwähnt wird. Ich muss mich an das halten, was ich im Buch selbst finde. 1986 in Grenoble geboren. Hinter dem Haus der Kindheit eine Pferdekoppel unter Kastanienbäumen, eine Wiese und große Volieren, die der Vater aufgestellt hat, bis der Fuchs kommt. Der Vater stribt früh, die Mutter ist unbefriedigt in ihren Erwartungen. Natassja wird wegen einer Depression behandelt, die damit nichts zu tun hat. Zum Zeitpunkt der Verletzung am 25. August 2015 ist sie 29. Sie hat bei dem bekannten französischen Anthropologen Philippe Descola, einem Schüler von Claude Lévy-Strauss, promoviert. Seit 15 Jahren ist sie "wer weiß wo" unterwegs, in Alaska, in Kamtschatka, auf den Bergen, unter den Meeren, seit neun Jahren lebt sie mit indigenen Völkern. Sie hat darüber bereits einen sehr beachteten Essay über die Gwich´in, ein Volk in Alaska, mit dem Titel les ames sauvages publiziert. Im Kamtschatka teilt sie den Alltag der Ewenen "seit mehreren Monaten", erstmals war sie dort vier Jahre zuvor. Iwan und Charles sind "die Hüter ihrer Häuser" einer in Kamtschatka, einer in Frankreich. Einmal macht sie eine Expedition in das Massiv des höchsten Vulkans von Kamtschatka mit über 3000 Metern Höhe.
<< Ich möchte ihr berichten, dass ich seit Jahren Berichte über die vielfältigen Wesenheiten sammle, die ein- und denselben Körper bewohnen können, eben um diesen Begriff einer eindeutigen, einheitlichen und eindimensionalen Identität auzuhebeln. >> S.48
Wildnis
Wildnis - die Heimat der Ewenen - ist eine militärische Sperrzone, in der die Russen heimlich Raketen testen. Ein Raum der sowjetischen Moderne, in dem es scheint, als wäre die Vergangenheit gestern gewesen. Den Indigenen haben die Besatzer ihre Rentiere und ihre Wälder genommen, so dass viele von ihnen schließlich für ihre Unterdrücker arbeiten. Ihr Wald rückt in immer weitere Ferne, sie vergessen ihre Muttersprache.
Einige Ewenen haben ein anderes Leben gewählt, fern von den Dörfern, fern vom Tourismus, fern vom Staat. Bei ihnen im Wald, dem eisigen, mit 50 Grad unter Null, findet die Autorin mit Iwan und Darja ihre zweite Familie. Es gibt keine Mobilfunkantenne. Erst 100 Kilometer weiter ist das Lager Mabatsch, wo sie auf den "Telefonzellenbaum" steigen, um in drei Meter Höhe Anrufe zu erledigen.
In der Wildnis ist es dunkel, es gibt kein elektrisches Licht, sondern nur das warme, gedämpfte Licht der Kerzen in einem Unterschlupf, einer Höhle.
Der Wald behält alles, was wir tun, sagen, manchmal sogar träumen. Er vergisst nichts.
Doch auch die Wälder sind für N.M. nicht Wildnis genug. Es zieht sie in die Berge. Dorthin, wohin der Geist des Bären ihr folgen kann, dem Ort der Initiation, dem Traum entgegen. Denn die Autorin - Anthropologin - ist dabei, ihre Distanz zum Forschungsfeld zu verlieren, sie ist dabei, sich aufzulösen, aufgesogen zu werden von dieser anderen Welt.
Diese andere Welt liegt in der Zeit vor der Zeit, in der Zeit des Mythos, des Urbeginns, als die Menschen die Schlachtszenen in Lascaux malten. (S.65) In einer Zeit, als es Beziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen gibt.
Ort der Genesung
In der Tiefe der eisigen Wälder von Tarjan liegt eines der Enden der Welt. "Man lernt zuerst, seinen Verstand anzuhalten und sich vom Rhythmus erfassen zu lassen, dem des Lebens... Stille zu finden, so tief wie die der großen Bäume da draußen." (S.95) Wie die großen Schriftsteller sucht die Autorin eine zunächst düstere, dann aber rettende Klausur, den Schritt zur Seite, um die Zeichen zu sehen, ein Dazwischen, einen Ort, um sich wieder herzustellen, nachdem sie ihren Platz verloren hat. "Der Rückzug soll der Seele helfen, sich zu erholen."
"Es gibt hier tatsächlich etwas Anderes als das, woran wir in der westlichen Welt glauben." Die Menschen wissen, dass sie im Wald nicht die Einzigen sind, die leben, fühlen, denken, hören. Um sie ehrum sind andere Kräfte am Werk. Es gibt ein Wollen außerhalb der Menschen, doch das an einem Ort, der "allerorten sozialisiert, weil unablässig durchstreift ist" (Philippe Descola). So kann es einen Dialog mit dem Bären geben, auch wenn dieser nicht kontrollierbar ist (S. 98) Dieses Ereignis liegt außerhalb des Rahmens des Begreifbaren.
Der Bär
Ich versuche das, was N.M. mit "dem Ereignis" beschreibt, in eigene Worte zu fassen. Aber es will mir nicht gelingen. Denn wie die Autorin selbst sagt, macht alle Eindeutigkeit, jeder Interpretationsrahmen das Erlebte trivial. Nur ihr gelingt es meisterhaft, in der Schwebe zu bleiben - in der Schwebe zwischen unserer Zeit und dem Einst, zwischen der archetypischen Begegnung und dem aktuellen Ereignis, zwischen Mensch und Tier, zwischen Bewusstsein und Traum, zwischen der menschlichen Realität und den "anderen" Kräften im Wald, die denken, fühlen und sich erinnern können.
Ein ähnlicher Fall begegnet mir auf Instagram. Tony Fitzjohn, Naturparkbegründer in Kenia und "Löwenflüsterer", wie es im Jargon heißt, ist gestorben. Mit George Adamson, der noch mit den britischen Besatzern gegen die Kikuyu kämpfte, und dessen Frau, zog er über 30 Löwen aus und wilderte sie aus. Auch er wurde scheinbar grundlos von einem Löwen attackiert und überlebte nur knapp. Adamson und seine Frau wurden beide in Kenia ermordet. Woran Fitzjohn nun mit Mitte 70 starb, ist nicht bekannt.
<< Ein Bär und eine Frau begegnen sich und die Grenzen zwischen den Welten implodieren. >> S. 125
<< Dann muss man neue Greunzen bauen, mithilfe der auf dem tiefsten Grund der Träume gefundenen Materialien. >> S. 127
N.M. erklärt den Angriff des Bären so: "Bären ertragen es nicht, den Menschen in die Augen zu schauen, weil sie darin das Spiegelbild ihrer eigenen Seele sehen." Sie erkennen den menschlichen Anteil in ihnen, der sie zu einem Zwitter macht, sie verfolgt im Traum und in der Wirklichkeit. Fortan sind seine Träume auch ihre, ein unbegreifliches Wir hat sich gebildet, das von weit her kommt, aus einer dunklen Vergangenheit.
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