Maya Jasanoff: The Dawn Watch. Joseph Conrad in a global world, William Collins, London, 2017
Aus einer Erzählung, die 100 Jahre alt ist, wird eine politische Biografie. Viel mehr als das Buch, das viele Amerikaner aus dem Schulunterricht kennen, interessiert Maya Jasanoffs Annäherung an den Stoff. Sie reist Joseph Conrad hinterher, mit dem Frachter über den Indischen Ozean bis nach Europa, mit einem Brauereischiff den Kongo herunter. Und alles, was Conrad 1890 erlebte, kommt plötzlich in der Moderne an.
Kurzbiografie
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<< "Fiction is history, human history, or it is nothing", he said. "But it is also more than that.; it stands on firmer ground, being based on the reality of of forms and the observation of social phenomena, whereas history is based on documents... - on second hand impression." >> Seite 11, Zitat aus "Henry James: an appreciation", in Joseph Conrad, Notes on Life and Letters, Seite 17

Maya Jasanoff ist in den Vereinigten Staaten aufgewachsen und hat an der Harvard Universität und in Cambridge studiert. In Dawn Watch beschreibt sie sich als halb-asiatisch und halb-jüdisch. Sie lehrt als Historikerin an der Harvard Universität und hat mehrere historische Bücher veröffentlicht, die sie in literarischer Form erzählt. Der geografische Rahmen ist oft weltweit gesetzt. Für die Biografie über Joseph Conrad ist sie mit der Christophe Colomb, einem französischen Container-Frachter, von Hong Kong nach England und auf dem Brauerei-Boot Primus I 1000 Meilen den Kongo hinunter gereist. Sie hat viele Preise in non-fiction literature gewonnen und hat 2021 den Vorsitz der Jury für den Booker Preis.
Ein Buch beginnen
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>> I lamed myself in Poland following Conrad´s footsteps and got violently seasick on a tall ship sailing in his wake - and that was before whatever awaited me in Congo. I failed spectacularly to read Nostromo the first time I tried, and tossed through so many sleepless nights trying to compose this book that I feared the malicious spirit who´d made writing an agony for Conrad had come in turn for me. >> Seite 12
Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. An dieses Gleichnis denke ich, wann immer ein Autor, eine Autorin vom Anfang eines Buches erzählt. Wo ist das Nadelöhr, wo der Einlass in das gewählte Thema? Wie findet man den Spalt, der zu den Heiligtümern der Felsenstadt Petra führt?
Jasanoff reist dafür. Sie geht in den Kongo, folgt 1000 Meilen der Biegung des Kongos hinab auf einem Boot und findet schon vor der Abreise den ersten kleinen Spalt. Als schließlich alle Formalitäten - eine Sache von mehreren Monaten - erledigt sind, muss sie innerhalb von drei Wochen abreisen.
Auch Joseph Conrad stieß sechs Monate lang nur auf ungewisses Schweigen. Dann bekam er innerhalb einer Woche den Auftrag zur Einschiffung. Der erste Faden, die erste Verbindung, zwischen der modernen Historikerin und dem polnischen Schriftsteller vor einhundert Jahren ist geknüpft.
Und so macht Jasanoff weiter: Sie verbringt vier Wochen auf einem Frachter und hat das framing ihrer Biografie - das was Joseph Conrads Welt und unsere zusammen bringt. Nämlich die ersten Auswirkungen der Globalisierung, die zu Conrads Zeiten noch nicht so genannt wurde: zu seiner Zeit transportierten Dampfschiffe erstmals europäische und aisatische Auswanderer in großem Stil in fremde Länder.
Joseph Conrad, der zum Lesekanon amerikanischer high schools zählt, den also jeder kennt, hat Debatten inspiriert, die er keinesfalls beabsichtigte. Seine Bücher haben blinde Flecken, schreibt Maya Jasanoff, die in heutige Diskurse über die Machtverteilung nach Rassenaspekten und globaler Verteilung passen. Als Einwanderer, der in einer Sprache schrieb, die er erst als Erwachsener gelernt hat, ist er ein früherer Vertreter der autobiografisch gefärbten Einwandererliteratur. Seine Biografin hat sogar das Glück, dass der politische Superstar unserer Zeit, Barack Obama, zu Conrads Herz der Finsternis befragt wurde.

Mit den Augen eines Bauern
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<< Makulo, son of the Ahalo and Boheheli of the Turumbu Tribe, was born in a rainforest near the fork of the Aruwimi and Congo rivers. He was five or six when the first rumor arrived. Villagers who lived on the river told Makulo´s parents that they´d seen a sort of phantom floating on the water. >> Seite 168
Über die brutale Kolonisierung ist oft geschrieben worden. Aber selten als Anschluss an das Ende der Sklaverei, das eigentlich Freiheit und Selbstbestimmung ermöglichen sollte. Und noch seltener aus den Augen eines Dorfbewohners am oberen Flussverlauf des Kongo. Es scheint wie ein Wunder, dass Maya Jasanoff eine solche Stimme aus der Zeit gefunden hat. Und noch erstaunlicher wirkt es, dass Makulos Sicht auf die Dinge schriftlich niedergelegt ist. Selbst die Autorin hebt diese Quelle im Verzeichnis besonders hervor. Sie verdankt sie einem Autoren aus Europa, der brillianten Arbeit Kongo. Eine Geschichte von David van Reybrouck. Sollte die Recherche mit einheimischen Quellen nicht Standard sein?

Mit eigenen Augen
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<< Tumbling down the rapids from Kinshasa to the Atlantic, the Congo River burst out of Africa with such force that you can see its sediments churning into the sea for hundreds of miles offshore, tinting the blue ocean brown. That´s the first violence Konrad would have witnessed as he approached the Congo Free State on the Ville de Maceio in June 1890. >> Seite 186
Endlich, auf Seite 186 von 315, beginnt das eigentliche Herzstück aus Conrads Leben, die Reise den Kongo hinauf, die Inspiration für Herz der Finsternis. Und statt einer einfachen Nacherzählung bekommt jedes Detail Bedeutung, wird die Erzählung mit mannigfachen, kaum bekannten Daten angereichert. 800 Europäer lebten im gesamten Staat, sie wurden tatsächlich gezählt. Zwischen 1890 und 1895 vervierfachte sich die Menge des gehandelten Elfenbeins, zunächst waren es etwas mehr als 75000 Kilogramm. Die einheimischen Träger mussten 50 Kilo schleppen und die Zahl der so transportierten Bündel zwischen Matadi und Leopoldville war mehr als 50000 im Jahr.
Wir erfahren, das Konrad on board das Wetter beobachtete, und schlechte Laune bekam. Die einzige weiße Frau, die er in Afrika traf, hieß Mrs. Comber und war Baptistin. Gräber am Ufer waren nicht nur einfach Gräber, sondern zweigeteilte Nachbarschaften von Gewalt und Anstand, Skelette und Kreuze, Leichen und Grabstellen.
Was gab es nicht in Conrads Reisetagebuch (aus dem später die Novelle entstand): Gespräche mit den Einheimischen an Bord oder am Ufer, Naturbeschreibung. Was gab es schon: Bäume, Bäume, Millionen Bäume, gewaltig, unermesslich, in die Höhe strebend. (Seite 196) Und wie weit kam er: bis an den letzten Punkt der europäischen "Zivilisation". Alles wird in einen Interpretationsrahmen gesetzt, alles wird anschaulich.
In der Rezeptionsgeschichte nach Erscheinen des Buches taucht Makulo wieder auf. Wir sehen die Sicht der Einhemischen, der beobachteten am Fluss. Sie wollen mit dem Glauben der Weißen nichts zu tun haben. Und schließlich, noch ein paar Jahre später, beginnt der noch entsetzlichere Teil der Kolonialgeschichte im Kongo mit dem Abbau von Kautschuk und der entsprechenden Zwangsarbeit.
Nebeligkeit
<< Conrad had used the details of his own journey as stepping-stones into waht he called "the foggishness of H of D". >> Seite 214
Herz der Finsternis ist kein politisches Pamphlet, und wurde auch zu Conrads Lebzeiten keins, obwohl die Zustände im Kongo nun die europäische (britische) Öffentlichkeit erreichten. Alle Bedeutung ummantelte Conrad mit unpräzisen Adjektiven, undurchdringlich, unverständlich etc, bis hin zu Kurtz´ letzten Worten Horror, Horror, die er in Europa nicht wiederholt.
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