· 

Kenia: Das Selbst im Spiegel der anderen

Heike Behrend: Menschwerdung eines Affen. Eine Autobiographie der ethnografischen Forschung, Matthes & Seitz, Berlin, 2020

Heike Behrend beginnt ihre ethnografische Feldforschung 1978 in Kenias Tugenbergen. Von diesem Zeitpunkt an denkt sie 30 Jahre darüber nach, welche wechselseitige Perspektiven entstehen, wenn die Beobachterin zur Beobachteten wird.


Shadychiri, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

Kurzbiographie

Die Ethnologin und Afrikanistin Heike Behrend kam 1978 zum ersten Mal in die Tugenberge im Nordwesten Kenias und kehrte - mit Unterbrechungen - über einen Zeitraum von sieben bis acht Jahren zurück. Sie blieb zwei und vier Monate am Stück und schrieb anschließend ihre Doktorarbeit Raum, Zeit und Ritual bei den Tugen im Nordwesten Kenias. Zuvor erschien das Buch Die Zeit des Feuers. Mann und Frau bei den Tugen in Ostafrika. In den 80er Jahren habilitierte sie sich mit einer Arbeit über den Norden Ugandas mit dem Buchtitel Alice und die Geister. Krieg im Norden Ugandas. Später wandte sie sich der Fotografie in Afrika zu und kuratierte mehrere Ausstellungen. Die Gruppe der "Likoni"-Fotografen aus Mombasa nahm 2001 am Steirischen Herbst in Graz teil. Behrends Autobiografie der ethnografischen Forschung mit dem Titel "Menschwerdung eines Affen" erhält 2ß21 den Preis der Leipziger Buchmesse.

Die vielen Ichs im Blick der anderen

<<  Gegen eigene Selbstwahrnehmung, Intentionen und Forschungspläne vervielfachten sie Versionen von mir, die ich mir nicht im Traum vorgestellt hätte. Vielleicht sind es aber gerade diese eher destabilisierenden Erfahrungen, die ein Verständnis der Differenz ermöglichen.  >>  Seite 15

Die Situation des Scheiterns ist in Publikationen vernachlässigt; schließlich stehen Veröffentlichungen meist am glücklichen Ende der Forschung. Wie viele Sackgassen es gab, wie viele Kehrtwendungen, andere Ansätze und Neufassungen wird meist verschwiegen.

 

Dabei kann es sein, dass gerade die Missverständnisse, Konflikte und Zufälle die eigentliche Beschreibung der Wildnis sind. Nicht der Gipfel, nicht die glückliche Heimkehr, nicht der Triumpf des Überlebens führen an ihr Wesen heran, sondern das gerade Gegenteil. Der Blick richtet sich auf den Kontrollverlust - das was passiert, wenn die Machtverhältnisse sich verkehren. Wildnis ist also die willentlich herbeigeführte Destabilisierung, und das, was dann passiert.

 

Behrend geht einen Schritt weiter: Sie führt die Reflexivität ein, den umgekehrten Blick der Beobachteten auf das eigene Ich, und die verschiedenen Ichs, die dadurch entstehen. Wenn diese Umkehrung zugelassen und wahrgenommen wird, werden wechselseitige Perspektiven deutlich. In der Umkehrung zeigen sich alte Verbindungslinien zwischen Europäern und Afrikanern auf; Behrend stützt sich dabei vor allem auf das koloniale Erbe in Kenia; aber auch in Äthiopien, das nie kolonisiert war, gibt es historische Spiegel-, Spott- und Zerrbilder der faranji, der Fremden aus Europa.

 

Behrend hat recht: Wenn ich den Fragen nachgehe, wann und unter welchen Bedingungen ich als Person angenommen wurde, welche Grenzen gesetzt wurden, welches Wissen geteilt, erfahre ich mehr über die Subjekte meiner Betrachtung als wenn ich diese beunruhigenden Sichtweisen auf mich selbst vertusche.

 

Zugleich war sie natürlich in der Lage, die Zusammentreffen zu gestalten. Sie schuf Vertrauen, in dem sie immer wiederkehrte und versprochene Geschenke mitbrachte. Durch das Wiederkommen wurde sie eine verlässliche Partnerin. Sie stieg von der Äffin zu einer sozialen Person auf.

Fluchtversuche

<<  Und es war das Abenteuer der ethnologischen Feldforschung, das mich immer wieder nach Afrika führte, die Herausforderung, mich in der Fremde, in Situationen, die ich nicht oder kaum kontrolllieren konnte, zu bewähren und dabei herauszufinden, ob es mir gelänge, das Interesse und Vertrauen von Fremden zu erlangen und sie in Freunde zu verwandeln. >>  Seite 23

Achtung, spricht Claude Lévy-Strauss. Zwar seien Ethnologen die letzten herorischen Abenteurer. Auch Heike Behrend reizt der Geruch des Abenteuers. Aber sie stehen in einer Reihe historischer Forschender, oft in Verbindung mit Kolonialherren, deren Fremdgeister heute noch Besessenheitsrituale der Hauka bevölkern.

 

Afrikanische Forscher schreiben über die "Wilden" der Pariser Trabantenstädte. Das Ideal der unberührten Traditionen, der Entdeckung von Menschen, die noch wie ihre Väter lebten zieht auch Behrend, ahnunglos und ignorant, zu den Bewohnern der Tugenberge. Sie vollzieht in der eigenen Person, in der eigenen Autobiografie viele Irrwege der selbsternannten Abenteurer nach.

 

Denn der Traum Gauguins, in der Südsee der ´Primitiven´ das bessere Europa zu entdecken, war schon nach dem Ersten Weltkrieg vorbei.

<<  ... so suchten auch wir (die Ethnologen, Anm. d. Autorin) in Afrika nach alternativen Lebensformen. Allerings, so viel verstanden wir immerhin, hatte der Kolonialismus das Ziel unserer Fluchtversuche bereits in Begegnungen verwandelt, die uns mit den ´allerunglücklichsten Formen unseres eigenen historischen Daseins´ konfrontierten.  >>  Seite 26f. (Zitat aus: Claude Lévy-Strauss, Traurige Tropen. Indianer in Brasilien, Seite 13)

Wege zwischen Wildnis und bewohnter Welt

<<  So steht die Wildnis, das eigene Andere, der bewohnten Welt gegenüber, das Tier - zum Beispiel der Affe - dem Menschen, der Mann der Frau und der Tod dem Leben. Doch ist das eine immer auch im anderen enthalten. Die Wildnis hat Orte der bewohnten Welt, und die bewohnte Welt Orte der Wildnis.  >>  Seite 59f.

Ich stelle eine Liste auf der Dinge auf, die ich von diesem Buch lerne: es sind viele Dinge, die ich erlebt, aber verdrängt, ignoriert oder vergessen habe. Ich kann jeden Punkt mit einer eigenen konkreten Geschichte untermalen.

1. Erinnere sich an Situationen, in denen du lächerlich gemacht wurdest. Sie sind ein Schaufenster in das, was die "Fremden" über dich - die "Fremde" - denken. Während du gelernt hast, dich über das Andere nicht lustig zu machen, drücken sie ihre Belustigung offen aus. Denn sie sehen genau hin, während du gelernt hast, wegzusehen, auszublenden.

2. Vergiss´ nicht die Situationen, in denen du dich hässlich fühltest. Auch anderen geht es so und sie suchten Erholung von diesem Bild, indem sie sich ein paar Tage distanzierten. Es ist wahr, dass bleiche Haut hässlich ist.

3. Als "Äffin" stehst du auf der sozialen Rangfolge ganz unten. Geld macht keinen Unterschied. Wahrscheinlich wird die soziale Rangfolge von Frauen festgelegt. Wichtig sind sie Initiationsriten. So ist es zumindest bei uns. Finde heraus, wie du in der sozialen Leiter aufsteigen kannst. Zum Beispiel durch verlässliche Widerkehr, oder durch ein Notizbuch. Oder durch illegale Bierfeste.

4. Achte auf kulturelle Unterschiede und tabus: z.B. die Herrschaft des Alphabeths, die aus der Kolonialzeit stammende oder gänzlich abwesende (Äthiopien) Herrschaft des Zählens, die Bedeutung des Schattens, Initiationsriten, die Bedutung von Namen und Altersklassen.

5. Lerne ein Mindestmaß an Höflichkeit in der Kommunikation: Gesprächsbeginn, die Rolle von Fragen, Mäßigkeit beim Essen.

6. Akzeptiere Kontrolle über das, was du wissen darfst.

7. Beschneidung ist eine Form, die Riten der Altersklassen in den Körper einzuschneiden. Die Ältesten üben ihre Macht aus. Ein Teil des Körpers wird geopfert, um als Mann oder Frau wiedergeboren zu werden.

8. Hunger ist ein Teil der Kultur?

9. Achte die Grenzen der Übersetzung: nur durch wechselseitiges Nachfragen, lange Diskussionen, Einübung und Wiederholung des gemeinsamen Wortschatzes (...) wird die Fremdheit nicht völlig aufgelöst, sondern als eine Art Ergänzung und Bereicherung in die eigene Sprache überführt, die ihrerseits verfremdet wird. (Seite 52f.)

10. Der Blick auf die Europäer ist historisch bedingt: sie hatten keine Wohnung, zogen umher und kamen aus der Wildnis. Sie sind fett, weil sie Menschen essen.

11. Kolonialherren hatten unterscheidliche Auswirkungen auf das Leben der Menschen in einem Land. Mal gut, mal schlecht, manchmal indifferent.

12. Werden die eigenen Ziele nicht mit Tricks durchgesetzt, erkennt man die Grenzen der eigenen Aufnahme in die Gemeinschaft und des Vertrauens.

13. Am Anfang steht die Wildnis; durch Rituale wird man zu einer sozialen Person. Schmerz und Gewalt werden erlitten, um sich aus der Wildnis zu entfernen und sich zu "domestizieren" (Seite 60).

14. Mensch wird man, wenn die eigene Perspektive durch andere verkehrt wird (zum Beispiel in Ritualen).

15. Der Preis für die beschränkte Mitgliedschaft in ihrer Kultur ist die Rolle der Lächerlichkeit.

16. Zeit übt keinen Handlungszwang aus.

An Kenias Küste

<<  So verflochten die transkulturelle Geschichte der Küste verlaufen ist, so komplex war auch die Geschichte ethnografischer Forscher und ihrer lokalen Gesprächspatner. Anders als in den Tugenbergen traten wir an der ostafrikanischen Küste in die Fußstapfen einer beachtlichen Anzahl von westlichen Ethnologen, Linguisten, Historikern, und Archäologen, die vor uns da gewesen waren.  >>  Seite 217

Zwischen Mombasa und Lamu, wo Europäer seit Jahrzehnten Ferien machen, sind das Eigene und das Andere, die bewohnte Welt und die Wildnis, Europa, Afrika und Indien untrennbar miteinander verflochten. Das Wort Wildnis ist nicht nur problematisch, es hat sich quasi aufgehoben. Es ist so anziehend wie nie als Fluchtpunkt und Gegenpol zu unserer zivilisierten Welt, und zugleich haben wir durch unsere überall eingreifende Globalisierung alle Fluchtpunkte aufgehoben. Der "Wilde" steht zumindest bei Heike Behrend nur in Anführungszeichen als Referenz zu kolonialen und post-kolonialen Stereotypen. Das Wort Wildnis ist belastet durch die historischen und aktuellen Gräuel, die mit ihm zusammenhängen: Sklaverei, Beute(kunst), Rassismus. Es ist zu einer Utopie geworden, die die Realtität in ihr Gegenteil verkehrt. Auf Nachsicht oder Geduld wegen Ignoranz zu hoffen, aus Zeitmangel oder finanziellen Engpässen ist nicht mehr erlaubt.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0