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Nigeria: Mensch und Tier im Nationalpark

Noo Saro-Wiwa: Looking for Transwonderland. Tavels in Nigeria (Granta Publications, London, 2012)

Noo Saro-Wiwa ist die Tochter des nigerianischen Bürgerrechtlers und Umweltschützers Ken Saro-Wiwa. Ihr Vater wurde wegen seines Engagements 1995 ohne ein Rechtsverfahren zum Tod verurteilt. Wie erlebt Noo den Naturschutz in Nigeria 20 Jahre später?


Kurzbiographie

<<  But the luxuries of English life were not what my father had brought his children to England for. We were here to get an education, and he was terrified we´d all gone soft, which is why our summer returns to Nigeria sometimes included an brutal acculturation fortnight in our village. The experience was a `character building´ one in which we were forced to live without electricity, running water, and - the most egregious of deprivations - television.  >>  Seite 4

Noo Saro-Wiwa kommt 1976 in Port Harcourt, Nigeria, auf die Welt. Die Familie, die zur Volksguppe der Ogoni zählt, zieht zwei Jahre später nach Großbritannien. Während die Mutter voll Heimweh mit den Kindern zurückbleibt, kämpft der Vater in Nigeria gegen die Umweltzerstörung durch den Ölkonzern Shell an. Laut Wikipedia wurden von der Entdeckung der Ölquellen 1956 bis 1993 23 Dörfer der Ogoni zerstört; ihr fruchtbares Ackerland und die Gewässer im Niger-Delta östlich von Port Harcout sind von auslaufendem Öl und Gas verschmutzt. 1995 wird Ken Saro-Wiwa während eines Aufenthaltes in Nigeria nach einem Schauprozess ermordet. Er war als Universitätsdozent, Schriftsteller und Gründer des Movement for the Survival of the Ogoni People (MOSOP) international und in Nigeria bekannt. 1993 folgte mehr als die Hälfte der Ogoni-Bevölkerung einem Demonstrationsaufruf des MOSOP. Seine Tochter Noo wird, wenn sie in Nigeria ihren Namen nennt, oft mit ihrem berühmten Vater in Verbindung gebracht. Laut Wikipedia zahlt der Shell-Konzern in einem Vergleich eine große Summe an die Familien der Hinterbliebenen.

Dennoch sind alle Geschwister berufstätig. Noo erweckt nie den Eindruck, mit großen finanziellen Polstern ausgestattet zu sein. Sie studiert am Kings College in London und an der Columbia University und beginnt ihre schriftstellerische Karriere, indem sie Reisebücher über andere afrikanische Länder schreibt. Doch irgenwann findet sie sich "in der ungewohnten Lage wieder, Nigeria auf eigene Faust besuchen zu wollen, seine Weite zu erkunden und diese letzte Grenze zu bereisen, die vielleicht weniger freiwillige Besucher empfangen hat als der Weltraum." (Seite 8) Sie will das 140-Millionen Einwohner Land zwischen dem Regenwald der Atlantikküste und dem südlichen Ende der Sahara mit erwachsenen Augen wiederentdecken.

Ihr Reisebericht wird ein riesiger Erfolg, mit Preisen dekoriert. Condé Nast Traveller zählt Noo 2018 zu den 30 einflussreichsten Reisefrauen der Welt.

Hungrig, müde, reif fürs Klo

<<  Being this close to the Sahara normally made me feel faintly depressed. I disliked its heat and emptiness and claustrophobic distance from the sea.  >> Seite 164

Nach vielen städtischen Zweischenstopps ist Noo im hohen Norden Nigerias angekommen. Dort, wo die wetlands auf die trockenen Ausläufer der Sahara treffen. Die Feuchtgebiete am Nguru sind weltberühmt als Rastplatz für hundertausende Zugvögel. Hunderte Arten überwintern dort. In der Regenzeit ist das Gebiet von Kanälen und kleineren Seen durchzogen.

 

Allerdings hat sich die Ausdehnung des Feuchtgebietes stark reduziert, seit Staudämme gebaut wurden. Die Nguru-Feuchtgebiete sind Teil des Tschadbecken Nationalparks, deren Kern wiederum das Dagona-Wasservögel-Schutzgebiet ist.

 

Noo ist schon einige Zeit unterwegs, wenn auch die genaue Anzahl der Tage schwer zu bestimmen ist. Hier, in einem der "entlegendsten Gebiete Nigerias, mindestens sechs Stunden entfernt von jeglicher größerer Stadt" (Seite 166) bekommt sie die Krise. Sie hadert mit überteuerten, disfunktionalen Hotels, mit Schutzgebieten, auf die niemand aufpasst, mit geplatzten Reifen, dem ewigen Zeitdruck des Sonnenuntergangs und dem dringenden Bedürfnis, aufs Klo zu müssen.

 

Fast immer sind ihre Geschäfts- und Gesprächspartner sind Männer. Oft machen sie ihr das Leben unnötig schwer. Ich wundere mich, dass Misogynie nur anhand eines aggressiven Affen thematisiert wird.


Ich hadere auch. Denn Noos Buch ist beileibe kein nature writing. Es ist wahrscheinlich nocht nicht einmal eine Erzählung über die Wildnis. Auch wenn weniger Menschen die Nguru-Feuchtgebiete besuchen als den Weltraum. Auch wenn in dieser Entlegenheit bei einer Reifenpanne jeder einzelne Kilometer bis zur nächsten Tankstelle zählt und Solidarität eine Frage des Überlebens ist.

 

Eher ist es ein Reisebericht, der sich aus dem spannenden Blickwinkel einer zugereisten ´Tochter´ dem touristisch wenig erschlossenem Land in Afrika zuwendet. Noo ist ein Migrationskind der zweiten Generation. Dazu abenteuerlustig, zäh, sportlich, eine, die sich nicht scheut, auf baufälligen Motorrädern dem Sonneuntergang entgegen zu brausen.

 

Sie besucht Schutzgebiete, die niemand sonst besucht. Aber sie erzählt mit den Worten der Ranger und Ornithologen, die ihren Blick leiten. Ihre Erkundung hat das Tempo einer Reisejournalistin, die - solange das Geld für Fahrer und Hotels reicht - ein ganzes Riesenreich vom Atlantik bis zur Sahara durcheilt.

 

Wo fängt Wildnis an und wo hört sie auf? Wie ziehe ich den imaginären roten Faden um die sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Ungewohnten, Unbewohnten, Unkontrollierten.

 

Ist die Entfernung einer Tagesreise zur nächsten Stadt ein Gradmesser? Ist es ein Trugbild zu glauben, dass nomadische Kulturen im Einklang mit der Natur leben? Weiß ein einheimischer, studierter Vogelliebhaber mehr über die Wildnis als Menschen, die sich von ihr ernähren? Kann eine nigeriastämmige Journalistin mehr über die Wildnis erzählen, wenn sie die richtigen Fragen stellt, als eine Frau, die monatelang alleine hindurch wandert?

Durch das offene Land

<<  We rode along the highway towards the Dagona Lake, through arid savannah dotted with acacia trees and doum palms; there was not a house or building in sight. Every so often, a lake appeared, transforming the parched landscape into a quenching patchwork of shiny blue water and green reeds. Harry pointed out the oil drums poking out of the ground, explaining that they are use for apportioning land to the nomadic cattle grazers as a way of preventing territorial conflicts.  >>  Seite 164

So schreibt jemand, der auf dem Motorrad durch die Landschaft rast. Keine Zeit, Details festzuhalten. Dumm nur, dass wir inzwischen jede Landschaft, und sei sie noch so entlegen, auf Bildern im Internet betrachten. Im Wesentlichen sagen sie das Gleiche wie die Beschreibung oben aus. Vielleicht mussten sie sogar als Erinnerungsstütze herhalten.

 

Wodurch wird Wildniserfahrung authentisch? Wenn es die literarische Qualität der Beschreibung ist - wo liegt dann der Unterschied zur Fiktion, die kein echtes Vorbild braucht und allein aus der Phantasie entsteht?

 

Die Qualität dieses Buches liegt nicht in der Geschwindigkeit eines road trips. Sie zeigt sich ein paar Absätze weiter, als Harry ins Spiel kommt, ein in den USA ausgebildeter Ornithologe, Hausa-sprechend und vom Stamm der Igbos.

 

Er kehrt nach Nigeria zurück, bekommt statt Geld 25 Ferngläser gespendet und organsiert damit Schulausflüge der nigerianischen Stadtkinder, bis die Regierung auch dafür das Geld streicht. Harry lebt in Lagos, verbringt jedes Jahr ein paar Monate in Dagona, um Vögel zu zählen. Das ist Natur in Nigeria, gegen den Strich der Erwartung gebürstet. Afrika im 21. Jahrhundert. Schulkinder aus der Stadt, die einen Ausflug ins Naturschutzgebiet machen. Dazu gehört auch, dass ein paar Kilometer weiter im Chad Basin Nationalpark, den schon lange kein Tourist mehr besucht hat, die Probleme durch die Fulsani Nomaden - illegale Beweidung, Territorialkonflikte - überhandnehmen.

Nomadland Westafrika

<<  Fulsani nomadic cow herders wander all around West Afrika - an area streching from Mauretania to Sudan - searching for fresh grazing pasture. Their cows´ grazing upsets Dagona´s environment by compacting the soil and making it harder for trees to grow. The resulting soil erosion has increased siltation of the lake, which, combinded with the construction of regional dams, has lowered water levels in the lakes, creating water and fish shortages for the local people.  >>  Seite 165

Eintausend Morgen von der geschäftigen Stadt Kanu entfernt schließlich Innehalten: So hat Noo Nigeria noch nicht gesehen. So unverdorben, schön, friedlich, unberührt von der Gier nach Land. Es ist eine Fata Morgana. Schon zeigen sich abgehackte Bäume, der Neid unter den Hirten um das fruchtbarere Land, das knappe Weideland. Auch die eilige Noo, immer auf der Flucht vor dem Sonnenuntergang, fühlt sich plötzlich wie ein kruder Eindringling auf dem metallischen Fleck des Motorrades in der Landschaft.

 

Am nächsten Tag findet sich die kleine Expedition auf einem Boot wieder, sie schippert über den Nguru See. Auf einer Insel im Nachbarsee stoßen sie auf die Überreste eines gekochten Vogels, gefällte Mangobäume. Das Ausflug endet mit einem Aufschrei der Empöung über den politischen Umweltschutz:

 

Diese Insel bettelt um Aufmerksamkeit, sagt Harry. Noo kommentiert ernüchtert: "Gegen Korruption anzugehen, war eine Aufgabe so groß, dass nur weniger Menschen Zeit oder Geld dafür haben."  (Seite 171) Sie steht hilflos vor dem bedauernswerten Zustand der Nationalparks, deren finanzielle Basis von korrupten Politkern abgeschöpft wird, deren Ranger und Forscher machtlos vor illegalen Weidegründen, Abholzung und Desinteresse stehen. Selbst das Schild der Ramsar-Konvention, die zum Schutz bedeutender Feuchtgebiete abgeschlossen wurde, haben sie mit eigenhändig bemalt.


Wild ist nicht der Ort, sind nicht die Menschen. Unberührte Natur, dass sieht man selbst im Mammutland Nigeria, selbst in den unwirtlichen Feuchtgebieten, gibt es nirgendwo. Der Wettbewerb um Nahrung ist so scharf geworden, dass auch Nomaden ihre Weidegründe zerstören. Naturschutzgebiete sind in korrupten Ländern dysfunktionale, wehrlose Gebilde. Noo trifft auf eine Wildnis, die sie von ihrem Vater kennt. Natur, die durch Korruption geschunden und zerstört wird. Sie ist nicht bereit, dafür zu sterben wie ihr Vater. Aber der Aufenthalt im nördlichsten Gebiet Nigerias bildet den Tiefpunkt ihrer Reise; die härteste Probe ihres Glaubens an die freudigen Überraschungen, die Nigerias Chaos und Vernachlässigung entsprangen.

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