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Äthiopien: Hochland im abnehmenden Dunst

Dervla Murphy: Im Land des Löwenkönigs. Originaltitel: In Ethiopia on a mule (Century Hutchinson Ltd., London, 1968), übersetzt von Angela Gaumér und Uta Haas, für Sierra, bei Federking & Thaler, 2002

Im abgeschiedenen Hochland Äthiopiens widerspricht eine alleinreisende Frau allen kulturellen Gewohnheiten. Die patriarchialische Gesellschaft kann sie nicht akzeptieren, bis sie ihren Bewachern entflieht und allein durch die Berge wandert. Dervla Murphy wagt den offenen Tabubruch in einem Land, das Frauen keine Freiheit zugesteht.


Kurzbiographie

<<  Es ist beinahe 13 Monate her, dass ich zuletzt in einer so einfachen Hütte übernachtet habe. Das war in Nepal, und es hat etwas Beruhigendes, sich auf einem anderen Kontinent in ähnlicher Umgebung wiederzufinden, die alten Gewohnheiten wieder aufzunehmen, bei offenem Feuer mit Rauch in den Augen zu schreiben, gluckende, schläfrige Hennen um mich und eine Unmenge umherschwirrendes Ungeziefer.  >>   Seite 46 - 82

Dervla Murphy lebt heute - mit knapp 90 Jahren - wieder genau dort, wo sie aufwuchs. Sie bewirtschaftet einen kleinen Hof im Süden Irlands. Lismore im Landkreis Waterford war der Ort, wo sie geboren wurde, wo sie - bis sie 14 war - zur Schule ging und - bis sie 30 war - ihre durch rheumatische Arthritis gelähmte Mutter pflegte.

 

Der Vater stammt aus einer Dubliner Familie. Widerstandskämpfer. Sowohl der Vater als auch der Großvater sitzen in Haft. Als Dervla 1931 geboren wird, liegt der Unabhängigkeitskrieg noch gar nicht lange zurück. Der Vertrag von Dublin, der Irland von britischen Herrschaft befreite, tritt 1921 in Kraft. Noch befindet sich Irland im Bürgerkrieg. Zu dieser Zeit arbeitet ihr Vater als fahrender Bibliothekar im County. Die Biblioheken in Schulen und Kleinstädten sind ein wenig Luxus, den sich das bitterarme Land gönnt.

 

Dervla unternahm schon als Teenager und junge Frau erste Fahrradtouren; zunächst in der Nachbarschaft, dann 1951 durch Wales and Südengland; 1952 nach Belgien, Deutschland und Frankreich; 1954 und 1956 nach Spanien. Im Februar 1961 starb der Vater, im August 1962 die Mutter: Dervla war mit einem Mal frei zu reisen. 1963 brach sie zu ihren ersten langen Tour auf; sie fuhr mit dem Fahrrad von Irland nach Indien.

 

Nach ihrer Ankunft in Delhi arbeitete sie für tibetische Flüchtlingskinder und verbrachte fünf Monate in einem Flüchtlingslager in Dharamsala geleitet von Tsering Dolma, Schwester des 14th Dalai Lama. 1966 folgte ihre zweite große Reise durch das äthiopische Hochland. Mit ihrer Tochter reiste sie später durch Indien, Peru und Madagaskar. Ab den 80er Jahren wurden ihre Texte zunehmend politisch und behandelten verschiedene Themen: den anglo-irischen Konflikt, Rassismus, fehlgeleitete Entwicklungshilfe. 1992 radelte sie von Kenia nach Simbabwe und kritisierte die Rolle der Hilfsorganisationen und der internationalen Banken und Einrichtungen. 2002 plante sie mit 71 Jahren einen Trip nach Ostrussland mit dem Fahrrad, musste aber umdisponieren und fuhr stattdessen mit Zug, Bus etc. durch Sibirien. 2005, 2006, 2007 besuchte sie Kuba. 2011 und 2015 publizierte sie über den Gaza-Streifen.

 

Sie sei sich bewusst, schreibt Dervla in ihrer Autobiografie Wheels within Wheels, dass Reisen weder besonderes Stehvermögen noch außergewöhnlichen Mut braucht. Alles was nötig ist, sei ein „happy-go-lucky“-Plan, so einfach wie möglich, und ein Temperament, das zu dieser Art des Lebens passt.

 

Allerdings wurde Dervla durch die Härte und Armut ihrerJugend vorbereitet auf ein Leben, die sich weniger an materieller Sicherheit als an der Freiheit zu wandern, orientierte. So sprengte sie die Ketten, die ihr die Pflege der bettlägerigen Mutter jahrzehntelang angelegt hatte. Irland, die arme, katholische, grüne Insel, hat eine Tradition der peregrinage, des religiös motivierten Pilgerns in ferne Länder, obwohl das Wort sich einfach von Peregrine - Wanderfalke ableitet.

Entlegenheit

<<  Äthiopien war schon immer schwer zugänglich. Dennoch ist Äthiopien weniger unzugänglich als die meisten anderen Länder Afrikas. Seit dem 16. Jahrhundert haben eine Menge Reisender das zentrale Hochland und Teile der Somalihochfläche besucht, um dort die Interessen Europas zu wahren. (...) Die frühesten europäischen Forschungsreisenden waren jedoch portugiesische Missionare, deren übertriebener Eifer ein Zeitalter des Fremdenhasses einläutete, das erst heute seinem Ende entgegen sieht.  >>   Seite 11 - 20

Entlegenheit ist ein merkwürdiges Wort. Im Englischen wird das Adjektiv remote in der Reiseliteratur so ungefähr für alles verwendet, was nicht direkt vor der Haustür liegt. Es klingt halt einfach schön. Gegenden sind remote, wenn ihnen unterstellt werden kann, dass sie ursprünglich sind. Völker sind remote, wenn sie wenig Kontakt zur Außenwelt - das heißt zu unserer Welt - haben.

 

Dagegen erinnert entlegen im Deutschen recht schnell an verlegen, nämlich einer Situation nicht gewachsen zu sein. Oder an verlegt, was schon so gut wie verloren ist. Lost places – heute so beliebt als Synonym für verwilderte Industriebrachen – sind aber etwas ganz anderes als remote places, das oft im romantischen Sinn entlegene Orte bezeichnet.

 

Aus europäischer Sicht ist Äthiopien der Inbegriff der Entlegenheit. Ein Codename für Geheimnisse, Legenden und Abgeschiedenheit. Welches Land der Erde misst schon das Alter eines Baumes an der Größe des Schattens, den er wirft? Welches Land lebt nach einer eigenen Zeitrechnung, die weder gregorianisch noch julianisch, nicht koptisch und nicht jüdisch und auch nicht islamisch ist? Welches afrikanische Land war niemals kolonisiert?

 

Äthiopien gründet seinen Ursprung auf der ebenso legendären wie nicht ganz greifbaren Königin von Saba. Es zählt sich zu den ältesten christlichen Glaubensgemeinschaften der Welt. Und noch eine Legende, die niemand beweisen kann, gehört zum Gründungsmythos des Landes: Die Bundeslade mit den zehn Geboten ist seit Jahrhunderten in einer orthodoxen Kirche im eigenen, auserwählten Land versteckt. Wer sich auf solchen Legenden gründet, braucht die Anerkennung von Außenstehenden nicht.

Die Welt vergessend

"Umzingelt von allen Seiten von den Feinden ihrer Religion, schliefen die Äthiopier fast tausend Jahre – die Welt vergessend, von der sie vergessen waren". Das bekannte Wort des englischen Historikers Edward Gibbon klingt schön. Aber es stimmt nicht.

 

In Wahrheit waren die fast tausend Jahre, die das Hochland abgeschnitten von der Welt angeblich verschlief, eine fruchtbare Zeit: Es entstanden Kirchen und Klöster, reich bemalt, prachtvolle Bibelausgaben und in Lalibela eine ganze Stadt mit elf unterirdisch in den rosa Tuffstein gehauenen Kirchen.Selbst Menschen, die dem Mysterium weniger zugewandt sind als Äthiopier, rätseln, wie dieses Wunder zustande kam.

 

Für Dervla verbindet sich der Name des Landes mit Schönheit, Gefahr, Einsamkeit und Mysterium. Oder, wie sie an anderer Stelle schreibt: Mit Gewalt und Frömmigkeit, Liebenswürdigkeit und Verrat, Unfruchtbarkeit und Fertilität.

 

Diese Mischung entfaltet offensichtlich ihren Reiz. Ihren eigenen Weg nach Äthiopien stimmt Dervla Murphy so nüchtern an, wie es dem Wesen kühler Nordländer entspricht. Eines Morgens überrascht sie sich selbst mit dem Entschluss: "Ich werde nach Äthiopien fliegen."

Aufbruch

<<  Die ganz persönlichen Vorbereitungen für eine solche Wanderung sind relativ einfach. Ich musste mir lediglich einen großen Rucksack kaufen, ein festes Paar Stiefel, eine fünf Liter fassende Wasserflasche aus Plastik, eine Eskimo-Ausrüstung, bestehend aus Jacke, Hose und Socken, die leicht zu tragen und warm war, eine kleine Reiseapotheke, sechs Notizbücher und ein Dutzend Kugelschreiber. (...) Unseligerweise kamen zwischen London und Massawah noch weitere Bücher dazu, so dass ich ein Gewicht von fast 50 Pfund zu schleppen hatte, als ich zu dem über 2000 Meter hoch gelegenen eritreischen Plateau aufstieg. >>  Seite 11 - 20

Dervla hat, als sie sich das zugänglichste unter den unzugänglichen Ländern Afrikas aussucht, nur einen vagen Plan. Wasser und Essen im Rucksack findet sie unnötig, denn sie weiß nicht, wie sie die zusätzlichen Kilo über die Berge tragen wird. Schon auf der ersten Etappe von Massaua, der Hafenstadt am Roten Meer, nach Asmara, der Hauptstadt Eritreas, rächt sich das schrecklich. Ihre Route steigt auf 2500 Meter an, ein unerträglicher Kopfschmerz setzt ein. Die Haut an den Füßen wirft nicht nur Blasen. Sie schält sich ab.

 

Glücklicherweise gibt es in Asmara einen britischen Generalkonsul. Nach 30 Jahren in Äthiopien kann er sogar als passabler Kenner des Landes gelten. Major Bromley hat zwei gute Ideen. Erstens empfiehlt er, Wasser und Nahrung mit auf die Reise zu nehmen. Zweitens schlägt er vor, ein Maultier zur Begleitung zu engagieren. Das kann nicht nur den erweiterten Rucksack schleppen. Es bringt im Notfall auch die Kranke zurück in die Zivilisation.

 

Gesagt, getan. Die beiden Europäer schicken unverzüglich einen Diener auf den Markt. Doch siehe da: Die Preise sind unverschämt, 30 Pfund werden verlangt. Und die Auswahl ist ungenügend. Als sich eine Reise in die nächstgrößere Stadt, Mekelle, ergibt, kommt dort wie gerufen eine äthiopische Prinzessin der sohlenlosen Reisenden zur Hilfe.

 

Leilt Aida wird sich wie ein Engel schützend über die gesamte Reise stellen. Sie verhilft der irischen Radsportlerin zu einem prachtvollen Tier, gefügig, klug, Rettung in allen Lebenslagen. Dervla nennt es Jock, nach ihrem Verleger, Mentor und gutem Freund in der Heimat.

 

In den kommenden drei Monaten wird sich zeigen, dass Jock lieber vorausgeht als hinterhergezogen zu werden, dass er zum Sprint auf den Gipfel ansetzt, wenn beide fast am Ende ihrer Kräfte sind. Und dass selbst eine fahrradfahrende Irin es irgendwann schafft, den Rücken des Maultiers so zu beladen, dass das Gepäck nicht in der nächsten Kurve abrutscht.

Auf ihrer ersten Strecke Richtung Adua begleitet sie Christopher, der zehnjährige Sohn des Konsuls, der am Ende des Tages mit dem Taxi abgeholt werden soll. Es klingt nach einem lockeren Spaziergang entlang der Straße, die unter den italienischen Kolonialherren behelfsmäßig ausgebaut wurde, jetzt aber verfiel. Doch schon eine Szene am Abend zuvor kündigt sich der Konflikt an, der sich über das gesamte Kapitel (und die nächsten) zieht: Sie sieht Frauen beim Backen zu, an sich eine harmlose Situation. Doch fühlt sie sich aufdringlich, nicht mit der üblichen Höflichkeit behandelt und ohne den Status, den sie sich selbst als Gast der Prinzessin zuschreibt.

Kampf um Freiheit

<<  Die allgemeine Reaktion auf diese unerhörte Zudringlichkeit war interessant zu beobachten. Ich spürte eine Mischung aus Neugierde, Belustigung, Scheu und Misstrauen; trotz des hohen Status´ meiner Begleitung behandelte man mich ganz gewöhnlich - in Asien wäre so etwas in einer vergleichbaren Situation völlig unmöglich. Einen niedrigen äthiopischen Beamten hätte man um einiges feierlicher empfangen, und man konnte sehen, dass dem Diener des Prinzen viel mehr Bedeutung und Wichtigkeit zugemessen wurde als dessen ausländischer Freundin. (...) Es ist doch immer hilfreich, wenn man von von Anfang an weiß, wo man hingehört.  >> Seite 46 - 81

Nach dieser Vorgeschichte ist es nicht verwunderlich, dass am nächsten Morgen zwei Polizisten auftauchen, um sie vor Banditen in Sicherheit zu bringen. Fünf Stunden rennt sie an ihrer Seite durch abgeerntete Felder und steile Bergrücken hinauf. Leilt Aida rettet sie vor diesem Verwahrungsversuch. Aber schon beim nächsten Gouverneur geht das Kräftemessen zwischen den männlichen Beamten und der alleinreisenden Frau weiter.

Das Simien-Gebirge zeigt da schon seine ersten Konturen. Auf engstem Raum sammeln sich in dem Massiv bizarr geformtes Gestein auf über 4000 Metern. Über Millionen Jahre erodierte das weiche Vulkangestein und bildete schroffe Abbrüche, die über hunderte von Metern in schmale Flusstäler abfallen.

 

Über den Steilhängen liegen leuchtend grüne Plateaus in der Sonne. Auf bis zu 3800 Metern Höhe wellt sich eines und noch eines sanft bis an den Horizont, wo die steilen Zacken des Ras Dashen und seiner Brüder wie Zähne in den Himmel stehen. Sie sehen aus wie ein Paradies, das über der eigentlichen, dunklen Erde liegt.

 

Zwei Jahre nach Dervlas Reise werden die Simien Berge mit nur 179 Quadratkilometern der kleinste und älteste Nationalpark Äthiopiens. Doch bis sie zum Ras Dashen, dem mit 4543 Metern höchten Berg aufbricht, folgen weitere Aufenthalte auf Polizeistationen. Die Beamten halten es für unmöglich, dass irgendjemand die Berge durchquert, geschweige denn eine fremde Frau. Leilt Aida, die wundersame, aufgeklärte Prinzessin, muss ein weiteres Mal eingreifen, damit sie ziehen darf.

Eine Frau muss wandern

<<  Im Zuge unserer Auseinandersetzung sagte Haile Mariam vorwurfsvoll: "Es wiederspricht unserer Kultur, alleine zu reisen." Vermutlich regt die Unkonventionalität meiner Unternehmung die Leute genauso auf wie die Möglichkeit, dass eine faranj ums Leben kommt und mit öffentlichen Ämtern betraute Personen dafür die Verantwortung tragen. Sie können nicht verstehen, warum jemand alleine reisen möchte, und weil sie es nicht verstehen, sind sie nicht damit einverstanden.  >>  Seite 46- 81

Haile Mariam, der Bezriksgouverneur versteht nicht, dass diese Frau wandern muss. Ihr genügt es nicht, in die Ferne zu ziehen, fremde Kulturen zu erleben, die Welt zu bereisen. Nein, sie muss alleine sein, ganz für sich. Sie muss schauen können, ohne dass jemand stört. Sie muss sich selbst erproben, in - wie sie es nennt - den banalsten sinnlichen Genüssen: Rast machen nach einem Gewaltmarsch, Linderung bei großer Hitze oder Kälte erfahren, essen nach großem Hunger und trinken, wenn sie fast am Verdursten ist.

 

Menschen, die sich nie einer körperlichen Herausforderung stellen, glaubt Dervla Murphy, sind irgendwann ohne sinnliches Bewusstsein, nur noch halb-lebendig. Menschen, die sich ohne Grund in die materielle Abhängigkeit von Dingen begeben, sind ihrer Meinung nach schlicht unvernünftig. Sie verlieren ihre Würde.

 

Weihnachten im Hochland

<<  Die Förmlichkeiten des sozialen Lebens hier bringen viel Eleganz in die einfachen Behausungen. Als die jüngeren Verwandten des Bezirksgouverneurs ihn begrüßen kamen, berührten sie seine Füße mit ihren Lippen und ihrer Strin, bevor er sie erhob und auf ihre rechte Wange küsste. (...) Ich neige von Natur aus nicht zu Konventionen, dennoch sind diese alten Sitten und Bräuche für mich keine bloßen Gesten, sondern Symbol für die Gesundheit einer Gesellschaft. Vor dem Hintergrund unserer Hoterdipoltergesellschaft wirken sie komisch oder langweilig. Sie hier zu erleben, macht offenbar, welchen Preis wir für hohe Leistung und Effektivität bezahlen. Er überrascht nicht, dass Hochlandbauern, werden sie zufällig Zeuge westlicher Verhaltensweisen, diese Westler für einen Haufen gefühlloser Barbaren halten.  >>  Seite 83 - 116

Fast hätten die Äthiopier Dervla doch noch auf ihre Seite gezogen. Denn am Weihnachtstag, dem 6. Januar, ist sie gar nicht unglücklich über Gesellschaft. Sie beginnt sogar zu verstehen, wie sie funktioniert. Dervla ist in Axum angekommen, der alten Handelsmetropole und für äthiopische Verhältnisse eine Großstadt mit "Feiertagsverkehr".

 

Zu ihr und ihrem Mautier stoßen ein Bezirksgouverneur, ein junger Priester, mohammedanische Händler und schließlich der 18jähriger Student Abebe. Abebe und Ato Gebre Mariam, der Gouverneur, nehmen die Fremde mit in die Kirche, zum Mittagessen, zum nächsten Dorf und zu weiteren Feiern - Einladungen, die Dervla am Weihnachtstag gerne annimmt. Doch am Ende ist klar, dass auch die neuen Freunde Dervla nicht alleine wandern lassen und dass die jeweiligen bestellten (und unwilligen) Begleiter wie auch zuvor die Zeit des Aufbruchs und das Tempo vorgeben werden.

Schließlich ist die Flucht leichter als gedacht. Dervla beschließt, mit den Konventionen der Gastgeber komplett zu brechen und die erste sich bietende Gelegenheit zur Flucht zu ergreifen. Ein mürrischer, unbewaffneter, schwächlicher Jüngling wird ihr zur Seite gestellt, dem sie erst einmal bergauf voraneilt. Drei Kilometer in der Ebene mit ordentlichem Tempo, dann ein Sprint auf einen steileren Hügel. Einem einheimischen Jugendlichen mit Maultier und Gepäck davonzurennen, muss man erst einmal schaffen. Doch natürlich holt der ortskundige junge Kerl sie irgendwann wieder ein, so dass sie zu einer raffinierteren List greifen muss.

<<  Um die Dinge für ihn zu erleichtern (...), griff ich nun selbst zu Papier und Stift und setzte mit lockerer Hand ein Schreiben auf, in dem ich ihn von allen Pflichten befreite. Er nahm es entgegen, ich verabschiedete mich und lief in vollem Tempo zum nächsten Bergrücken. Einmal sah ich mich nach ihm um und entdeckte den armen Kerl unter einer Akazie sitzend. Er wirkte völlig durcheinander. Hoffentlich bekommt er zu Hause keine Prügel.  >>  Seite 117 - 146

Der Tabubruch

<<  Theoretisch kann ich reisen, wann und wohin ich will, praktisch jedoch bin ich zur Verantwortung der Einheimischen geworden und in einem Netz jahrhundertealter Traditionen gefangen. (...)

Für mich ist die Situation neu. Ich bin noch nie unter Leuten gereist, die mir gehörig Angst einflößten, um mich von meinem momentanen Ziel abzubringen.  >>

Als Frau allein zu sein, ist ein Tabu. Hier wie in Äthiopien. In Äthiopien allerdings noch viel mehr als in Europa. Extrem patriarchalische Konventionen bestimmen dort bis heute das Leben, berichten selbst erfolgreiche, gebildete und unabhängige.

 

Es ruft scharfen Protest hervor, wenn Frauen auf der Straße Fahrrad fahren. Es ist verpönt, sich in akademischen Debatten zu Wort melden. Frauen beziehen normalerweise keine eigene Wohnung, selbst wenn sie arbeiten; erst durch Hilfsmittel aus dem Ausland werden in der Hauptstadt seit kurzem Kondominiums gebaut – Ein- bis Zwei-Zimmer-Wohnungen. Genitalverstümmelungen bei Mädchen sind in Äthiopien trotz weltweiter Kampagnen stark verbreitet. Die schmerzhafte und gefährliche Prozedur gilt als Garant für Anstand und Zucht – zwei der wichtigsten Eigenschaften einer Frau auf dem Heiratsmarkt.

 

Es liegt nahe zu erörtern, welche Grenzen Dervla übertritt, als sie den Jungen abhängt. Wieviel interkulturelles Verständnis, heute so hochgehalten, sie in diesem Moment einfach beiseite wischt. Viel wichtiger ist der Autorin, dass sie nun in einer Gegend allein ist, die "um einiges wilder und abgelegener aussah, als das, was ich bisher gesehen hatte." Klares Wasser sprudelt sauber und grün aus einer Wand aus rissigem, roten Felsen. Schon taucht das nächste Dorf auf, knurrende Hunde und Einheimische, die nicht glauben, dass sie eine Frau ist, bis ein Mann mit dem Griff unter ihr Hemd ihr Geschlecht bestätigt ("auf die bekannte Weise"). Das Verhältnis zu den Dorfbewohnern wird anders.

Die beste Währung in den Bergen

<<  Innerhalb einer Viertelstunde war ich in dem Dorf akzeptiert. Zwar betrachtete man mich wohl als ziemlich verwirrende Erscheinung, aber dennoch behandelten sie mich wie ihresgleichen. Dieser Kontakt wäre so nicht zu Stande gekommen, wenn ich in Begleitung bewaffneter Männer mit gewichtigen Schriftstücken gekommen wäre. In diesem Land, wie in jedem anderen auch, ist Vertrauen die beste Währung im Tausch gegen Freundlichkeit.  >>  Seite 117 - 146

Die erste Nacht allein in der majestätischen Stille der Berge: eine Luft wie kühler Samt, ein Himmel wie das exotisch geschmückte Zelt des Kaisers. Dann kommt der Morgen in silbriger Blässe, mit weichenr Schönheit. Ein schwaches Rosa zeigt sich am Horizont zeigt und verwandelt sich in sattes Rotgold. Dervla, die dem katholischen Glauben längst abgeschworen hat, denkt über Unsterblichkeit nach. "Die Zeit kann nicht zerstören, was eine Morgendämmerung in den Bergen in uns auslöst."

 

Endlich ist die Wildnis ist da; Dervla allein mitten im Hochland. Sie wandert über das Dach Äthiopiens und besteigt zwei Viertausender. Die Gebirgskette, die sich nur als Dunst in der Ferne gezeigt hatte, ist unter ihren Füßen, vor ihren Augen, mit Händen greifbar.Lange, glänzende blassgrüne Blätter strahlen im Sonnenlicht, als ob Funken silbrigen Lichts die Gipfel überzögen. Durch die märchenhafte Stille schwingt entfernt die zarte Meloldie des Winds. Ein Gefühl der Makellosigkeit steigt in ihr auf, und eine Stille so unzerstörbar wie der Fels. (Seite 117 - 146)

 

Am Abend sitzt sie mit Hirten am Feuer. Funken sprühen, der Rauch steigt auf, davor stehen regungslos die hohen Gräser zwischen den Wachenden und dem Feuer. Dervla gerät in eine Art Trance, einen friedlichen, gedankenverlorenen Zustand, indem sie die einfachen, komplizierten Muster ihrer Umgebung beobachtet. Stein, Horn, Lehm und Tierhäute sind die Objekte einer Welt, in der Geld nichts bedeutet. Sprache, Geschichten, Überlieferung, die nicht von Ideen oder Zahlen geprägt sind, sondern von dem Gefühl der Zusammengehörigkeit. (Seite 117 - 146) 

Die Freiheit, allein zu sitzen und in die Gegend zu schauen, ist nun unendlich. 20 Jahre vor Bruce Chatwin beobachtet Dervla die songlines im äthiopischen Hochland, auch wenn sie diese Erfahrung nicht zum Thema ihres Buches macht. Chatwins Bericht über die Aboriginees, mit denen er nebenbei nicht viel Zeit verbracht hat, wurde als Überraschung und Sensation gefeiert. Seltsamerweise wurde diese Tradition der Songlines erst über die Aboriginees einem größeren Publikum in Europa bekannt.

<<  Die Schäfer hielten paarweise Wache; ein Mann und ein Junge saßen am Feuer und sangen ein endloses, monotones Duett. Den Namen nach zu urteilen, die in dem Lied vorkamen, muss es sich um die Sage der tapfersten Krieger des Hochlands gehandelt haben. (...) Es war wundervoll, den Klang dieser stolzen Reden aus der Dunkelheit des Tals widerhallen zu hören. Für Hochlandbewohner gehört Geschichte nicht der Vergangenheit an, gerinnt nicht zu ordentlichen Zahlenreihen und zugeordneten Schauplätzen; sie lebt in ihnen als inspirierende Erinnerung an mutige oder geschickte Personen, die vielleicht vor 100 oder 1000 Jahren gelebt haben - soviel sie wissen.  >> Seite 117 - 146

Gipfelkampf

<<  Von hier aus konnte man den Gipfel nicht sehen - durch das Dickicht der Bäume auch nicht weit voraus -, und der arme Jock musste mit kräftigen Zurufen, für die ich kaum genug Luft hatte, und gelegentlichen Schlägen auf sein Hinterteil weitergetrieben werden.

(...)

Mit zunehmend dünnerer Luft wurde jeder Schritt zur Qual. Jocks Sprünge von Felsen zu Felsen hätten jeden Hindernisläufer in den Schatten gestellt. Oft musste er mühsam große, spiegelglatte Steinplatten hochsteigen, die gefährlich abschüssig lagen, über tiefe, enge Wasserrinnen springen oder sein Gleichgewicht in der Schräge halten, wobei der Boden unter jedem Tritt seiner Hufe nachzugeben drohte. Aber seltsamerweise ging er voraus, mittlerweile freiwillig, als ob er ahnte, dass ich zu schwach geworden war, ihn anzubrüllen oder zu schlagen, und dass wir uns in einer ernsten Lage befanden, in der er mich nicht hängen lassen durfte.

(...)

Für mein unerfahrenes Auge sah es so aus, als könnte er sich jeden Augenblick ein Bein brechen, was weitaus schlimmer gewesen wäre als umgekehrt. (...) Ich fing gerade an mich zu fragen, wer von uns beiden zuerst zusammenbrechen würde, als wir plötzlich aus dem Wald in freies Gelände kamen. Von einer vorspringenden Kante, bewachsen mit gelblichen Gras, sah ich 60 Meter über mir den Gipfel. Ich wollte vorausgehen, aber Jock war offensichtlich ebenso ambitioniert. Heroisch nahm er all seine Kräfte zusammen und war als erster oben, keuchend mit hängendem Kopf.  >>  Seite 117 - 146

Am nächsten Tag beginnt der Aufstieg, und er ist zunächst die Geschichte einer Verirrung. Sie folgt dem Fluss im Tal, dem Ataba, doch plötzlich rücken drei Bergmassive zusammen, mehrere Flüsse treffen aufeinander, die Abhänge sind mit riesigen Bäumen voller Kletterpflanzen bewachsen. Zunächst geht es in einem Felsspalt bergauf, dann wieder hinab zum Fluss, dann auf einer Wand mit lockerer Erde wieder bergauf. Schließlich gelangen sie auf eine Ebene, auf der wie könnte es anders sein - einige Bauern bereits Gerste dreschen. Sie ist 3100 Metern Höhe, und nun endlich wirklich im Simien-Gebirge.  Noch einmal 400 Meter hoch auf einen Bergrücken mit schwarzer Erde - jetzt ist es kalt, - und noch einmal wandert sie 200 bis 300 Meter in die Höhe als ihr klar wird: Nur über einen der zerklüfteten Gipfel um sie herum kommt sie aus diesem kolossalen Amphitheater heraus. Angst oder Verzweiflung ruft das nicht hervor. Vielmehr betrachtet sie neugierig die Gipfel und fragt sich, welchen das Schicksal für sie bestimmt hat, als eine Herde Gelada-Paviane in das Geschehen einbricht und mit ihren aggressiven Fangzähnen nun tatsächlich grausige Geschichten in Erinnerung rufen. Ein paar Steinwürfe später ist auch diese Gefahr gebannt und der eigentlich Anstieg beginnt. Jock, das Maultier, ist der eigentliche Protagonist und Held des nachfolgenden Kampfes.

Es ist ein Sieg, den sie fühlt als sie von 4200 Metern Höhe um sich schaut. Ein Sieg über eine bizarre Ödnis aus Stein. Ein Sieg über die zerklüfteten Berge, die sie vom Tal aus über sich sah und die jetzt unter ihr liegen. Ganz Nordäthiopien, von Wüsten und Meer umgeben, liegt zu ihren Füßen. Nein, der erste Eindruck wird korrigiert: zwischen den Felsbrocken wachsen Loblien und Büsche.

 

Diese Wildnis ist tasächlich entrückt, entlegen. Dervla empfindet sie als Befreiung, sie will die Welt vergessen. Alles was ihr fragil, bedroht, vergänglich erscheint, kehrt sich hier Unendliche: in die absoluten Elemente von Raum, Licht und Stille. Die Notwendigkeiten des menschlichen Lebens allerdings heben diese Gefühle schon bald wieder auf: Dervla und Jock brauchen Schutz für die Nacht und stoßen auf ein weiteres Dorf auf 3750 Metern Höhe. Die Nacht wird bitterkalt, in den einfachen Hütten aus Holzpfählen mit Lehm und Dung verputzt sind die Bewohner Ungeziefer und dem Wind ausgesetzt. Und doch findet Dervla die Bewohner reizend und die Einfachheit der Lebensumstände anziehend:

Es geht weiter ins Unbekannte, denn keiner der Männer im Dorf weist den Weg. Dervla ist sich auch nicht sicher, ob die Gegend, die vor ihr liegt, bewohnt sein wird. Doch schon ein paar Sätze später stellt sie klar, dass große Schaf- und Kohherden auf den Hochebenen weiden. Sie ist sogar der Ansicht, dass angesichts des Viehbestands die Bewohner nicht sonderlich arm sein können. Nach einigen Irrwegen löst sich Wildnis daher auch kurz danach auf: Dervla kommt auf eine breite Schotterstraße, die sich jedoch schon bald in eisige Höhen aufschwingt. Auf dieser Straße, zwischen schwarzen Eisplatten, erreicht sie den nächsten Gipfel auf 4400 Metern. Körperlich ist sie am Ende ihrer Kräfte, wenig Essen, wenig Schlaf und die Kälte führen dazu, dass sie sich "mehr tot als aufgewärmt" fühlt und eher teilnahmslos in das "Herz des Simien-Gebirges" blickt - "eine gezackte, dunkle, kalte, raue Welt aus Felsen". Den nächsten Gipfel - und ersten, den sie mit Namen benennt - den 4512 Meter hohen Buahit, zweithöchster Berg in Äthiopien, lässt sie aus. Nach einer Begegnung mit weiteren Bergbewohnern wendet sie sich talabwärts, in der Hoffnung die größere Siedlung Derasghie zu erreichen.

Dervla muss sich jetzt bereits im Gebiet des heutigen Nationalparks befinden und zwar entlang der Routen, die regelmäßig von Touristen bewandert werden. Sie führen von Debark aus westlich in die Berge, zunächst nach Gich, dann über fast 4000 Meter nach Camp Cennek und dort entweder hinauf auf den Ras Dashen oder wieder hinab ins Tal nach Ath Arkay. Auch zu ihrer Zeit gibt es hier bereits Touristen, denn sie trifft auf Engländer, die sich trotz Führer irgendiwe getrennt hatten und eine Nacht ohne Licht, Lager oder Essen umhergeirrt waren - ein starker Kontrast zu der alleinreisenden Frau, die ohne derlei Problemen zurecht kommt. Dervla schließt sich der Gruppe an und erklimmt nur doch den Buahit. Das Lager, das sie gemeinsam mit den Engländern erreicht, ist eine Hochleistungsexpedition, ausgerüstet mit einem riesigen Zelt, einem Primuskocher, Kochgeräten, Setingut, Besteck, schachtelweise Faranj-Essen, einem Maultier plus Maultiertreiber und drei Packpferden. Schon die Aufzählung beschreibt die Art von Verachtung, die Dervla für diese Art des Reisens empfindet. Eine solche Expedition hat, auch wenn sie im gebirge stattfindet, in ihren Augen nicht mit Wildnis zu tun. Und schon tauchen alle Probleme wieder auf, von denen sie sich am Anfang der Reise befreit hat: Einer der Mitwanderer geht verloren, ein paar Minuten allein in der Landschaft muss sie sich mühsam erarbeiten und sich "egoistisch" darüber freuen. Das Campen macht das Leben kompliziert: es dauert drei Stunden bis alles abgebaut, abgewaschen und gepackt ist. Der Situation entsprechend kühl ist daher auch ihre Beschreibung des höchsten Gipfels Ras Dashen (4533). Auf diesen Berg wird sie von den bezahlten Maultiertreibern hinaufgeführt:

<< Die Steigung war minimal, in dieser Höhe war jedoch die Kletterei über Felsbrocken und riesige Bergschultern anstrengend genug, und wir brauchten 20 Minuten für die letzten 800 Meter. Schließlich brachte uns ein letzter steiler Aufstieg von 15 Metern Höhenunterschied zum höchsten Punkt Äthiopiens. Fünf Minuten nach Ian und dem Maultiertreiber erklomm ich den Gipfel; ich fühlte mich wie eine Fliege, die man mit DDT besprüht hatte. Unser Gefühl des Triumphs wurde durch Mikes Verschwinden leicht beeinträchtigt.  >>

Ich sehe sie auf einem Berg sitzen, ganz allein mitten in Afrika. Es ist Nacht und eiskalt. Wie ein breites, helles Band zieht sich die Milchstraße durch das blauschwarze All, durchbrochen von hell leuchtenden Punkten. So weit reicht die Erde in den Himmel hinein, dass alle Sehgewohnheiten, das Spiel der Farben, der Schleier der Atmosphäre zurücktreten. Kalte Luft füllt die Lunge und entweicht. Das Herz stockt vor der Grenzenlosigkeit. Der Blick sucht einen Reiz, an dem er sich festhalten kann, und findet nur Unendlichkeit. Dieses Hochland knapp über dem Äquator ist ein ferner Planet, auf dem es nur schwarzblauen Raum von unbegrenzter Ausdehnung gibt und ein breites helles Band, das wie ein transparenter Seidenstoff darüber liegt, durchbrochen von den kleinen leuchtenden Punkten der Sterne. Und sonst gar nichts.

<<  ... das allmähliche Entstehen der Zuneigung zu einem anderen Volk ist der eigentliche Gewinn und die reichste Belohnung einer solchen Reise - und nicht das Zurücklegen tausender von Kilometern oder das Besteigen hunderter von Berggipfeln.  >> Seite 350 - 351

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