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Afghanistan: Der Krieg kommt in Wellen

Taran N. Khan: Shadow City - A Woman walks Kabul (Chatto & Windus, London, 2019)

Eine Stadt befindet sich im Krieg, - und eine Reporterin geht spazieren. Taran N. Khan entdeckt Kabul mit den Augen des weit entfernten Großvaters. Sie erzählt von zerstörter Kultur und verlorener Heimat und geht dafür, wenn es sein muss, durch eine Wildnis aus betonierten Schutzwänden und abgeschlossenen Containersiedlungen.


Kurzbiographie

<<  It was only when I was there I felt that I had answers. Being in Kabul was like entering a room in my family´´  s  home in Aligargh in the middle of a blazing summer day. From the bright sunshine you move into darkness. As your eyes slowly adjust, the room begins to take shape, dim interiors open up slowly, expanding with each step to reveal furniture and nooks, objects you recognise. The longer I looked, the larger Kabul became, revealing depths and spaces, with details emerging behind what was first apparent.   >>  Seite 20 - 40

<<  Erst als ich dort war, hatte ich das Gefühl, dass ich Antworten hatte. In Kabul zu sein war so, als würde ich mitten an einem strahlenden Sommertag ein Zimmer im Haus meiner Familie in Aligargh betreten. Vom hellen Sonnenschein gelangt man in die Dunkelheit. Wenn sich die Augen langsam daran gewöhnen, nimmt der Raum Gestalt an, die schummrigen Innenräume öffnen sich langsam, werden mit jedem Schritt größer und geben den Blick frei auf Möbel und Ecken, auf Gegenstände, die man wiedererkennt. Je länger ich hinschaute, desto größer wurde Kabul, enthüllte Tiefen und Räume, und Details tauchten hinter dem auf, was zuerst sichtbar war.  >>  Seite 20 - 40

Taran N. Khan stammt aus einer Pashtunen-Familie, die väterlicherseits schon seit Jahrhunderten zur Diaspora in Nordindien gehört. Khans Urgroßvater war am Hof von Rampur angestellt. Ihr eigener Großvater zog nach Aligarh, eine Universitätsstadt mit knapp einer Million Einwohnern 120 Kilometer südöstlich von Delhi. Delhi hatte laut Wikipedia 2021 knapp 19 Millionen Einwohner! Dort und in London studierte Taran N. Khan und wurde Journalistin und Autorin. Heute lebt sie in Mumbai.

Mit einem Projekt der Entwicklungshilfe kommt sie 2006 erstmals nach Kabul, um Journalisten auszubilden. Ihre Vorfahren, ohnehin schon seit Jahrhunderten in Indien, könnten ebenso gut von der anderen Seite der von den Briten gezogenen Durand Linie stammen, nämlich aus Pakistan. Die Frage, ob sie tatsächlich aus Kabul stammt, umgeht sie mit einem Trick: Die Freunde dort adoptieren sie, genauso wie der Zollbeamte am Fluhafen, der ihren Namen als Pashtun erkennt und urdu mit ihr spricht (Sprache der Muslime in Pakistan und Indien, in Afghanistan seltener, dem Persischen ähnlich). Damit ist die Brücke hin zur persischen Kultur geschlagen, die ihr über die Figur des Großvaters mütterlicherseits als roter Faden durch Kabul dient. Über Babas Herkunft wird nicht mehr bekannt, als dass er als Student nach Bombay zieht. Er ist Schrifsteller, Übersetzer aus dem (ins?) Urdischen, ein Gelehrter in persischer Dichtung, englischer Literatur, Musik und Mythologie. Auf diese Weise, zeigt sich, bewohnte Baba Kabul viel mehr als seine Enkelin es sich je erhofft hätte, und obwohl er selbst nie in der Stadt war.  Er dient Taran als Zuhörer und Inspiration auf der Reise in die (mögliche) Stadt der Ahnen. Die Beziehung zwischen dem zahir, Offenen, und batin, Versteckten, das sie durch Kabul führt, ist ein Konzept aus der  Literatur und Philosophie der Region, die baba so gut kannte. In der poetischen Doppelbödigkeit steht der Mond für den Geliebten, Mauern für das Exil. Mit dieser Poesie zu wandern ist sich dem Ziel auf Umwegen zu nähern und dabei ein großes Sichtfeld der Erkenntnis zu erlangen. Zu Kabul passt, dass die Schatten hinter der sichtbaren Stadt die Ebenen tieferer Wahrheiten offenbaren. Über Taran N. Khan gibt es auf der deutschen google Suche keine Seite, aber ein Interview mit scroll in.

Nato am Ende

<<  ...that to talk of war in the past tense in this city was a mistake. War did not come to Kabul, nor did it leave. It ebbed and flowed, and what people learned to watch out for was how it affected them.   >>  Seite 20 - 40

In einer beispiellosen Schlappe haben die NATO-Kräfte Afghanistan wie geschlagene Hunde verlassen. Seither triumphieren die Taliban über westliche zurückgelassene Staatsbürger, die es in keinen der letzten Frachtflieger geschafft haben, Frauen, NGOs, die für ein freiheitlicheres Afghanistan arbeiteten. In der Süddeutschen Zeitung wird ein grünes Marsmännchen - letzter US-General in der Nacht - lachenden, blumenbekränzten Sowjetsoldaten beim Abzug 1991 gegenübergestellt.

Ein Muss, dass ich in diesen Tagen zu Taran N. Khans Shadow City greife.

Tarans Blick auf die Stadt, die sie 2006 erstmals für ein journalistisches Hilfsprojekt besucht, ist also der einer Außenstehenden, aber immerhin einer Außenstehenden, die eine Stadt in Auflösung über einen Zeitraum von sieben Jahren selbst erlebt und einen Großvater hat, der die Literatur und Philosophie der Region ein Leben lang studiert hat, obwohl er selbst nie in Kabul war. Dieser Großvater wird auf Seite 18 eingeführt, als lebender, wohlmeinender Reisebegleiter und -führer, der sie mit den besten Wünschen in die alte Heimat entlässt und mit noch mehr Wünschen ihre Rückkehr erwartet.

Ihre eigenen authentischen ersten Eindrücke sind zunächst die einer expat, die (mit ihrem Mann) in einem Gästehaus für die Fremden wohnt, die wie auch in Äthiopien einen Namen für alle bekommen haben: khareji heißen sie Kabul. Im Gegensatz zu den Einheimischen haben khareji einen Generator. Im Gegensatz zu allen normalen Bürgern haben sie nachts Licht und können an ihren Computern arbeiten. Nach kurzer Zeit fügen sich Khan und ihr Mann in ihr Priviligierten-Dasein und kaufen für ihre gemietete Wohnung ebenfalls einen Generator. Zu ihrer Einweihungsparty kommen vor allem junge, fröhliche und abenteuerlustige Expats. War Rory Steward auch auf solchen Partys, der sich in Places in Between (2002) wie ein einsamer Wolf geriert?

Auf der Spur der Bücher

<<  I have a complicated relationship with walking. This has a lot to do, I suspect, with having grown up in Aligarh…where walking on the streets came with intense male scrutiny, and the sense of being in a proscribed space. I learned to display a posture of ‘work’ while walking, and to erase any signs that may hint at my being out for pleasure, for no reason at all other than to walk. I see walking as a luxury, not something to be taken for granted.  >>  aus dem Interview mit scoll in

<<  But I can say that going to work in Kabul was quite important in how I experienced the city. From an early stage, I was able to wander its streets and stories in the company of my colleagues, many of whom soon became my friends. Thanks to this, I was able to get a perspective of intimacy and access, that I think fuelled my fascination for the city.  >>  aus dem Interview mit scroll in im Mai 2020

Zurück zu Taran N. Khan: Immer öfter wird sie zuhause von "besorgten" Freunden und Familie gefragt, warum sie wieder zurück nach Kabul will. Immer absurder erscheinen Spaziergänge durch eine Stadt im Krieg.  Doch je öfter sie in der Stadt ist, desto stärker wird die Anziehungskraft der Schatten auf sie. Sie ist eine Jägerin auf den Spuren der eigenen Herkunft, sie schreibt eine Autobiographie der Jahrhunderte langen Vertreibung aus der Stadt. Doch das reicht in den Augen ihrer Familie und Freunde nicht. ´In Kabul ist Krieg, er kommt weder noch geht er. Er wird nur schwächer oder wieder stärker, und die Menschen lernen, aufzupassen, wie sehr er sie berührt. Sie braucht weiteres Futter, um die Hinweise auf reine Freude am Spazieren zu verschleiern; ein Missgeschick kommt ihr zur Hilfe. Sie vergisst, Bücher mitzunehmen, mit denen sie die lange Abende und Tage durchsteht, in denen der Bewegungsradius eingeschränkt ist und in der Stadt nicht viel passiert.

Also muss sie in Kabul Bücher auftreiben, was nicht so einfach ist. Sie geht spazieren, um ein Hotel zu finden, in dem es eine Bibliothek gibt, oder einen Club. Bücher sind mit Hierarchien verbunden, die Taran als ausländische Journalistin mit Auftrag in der Entwicklungshilfe wahrscheinlich erklimmen kann. Die anderen Hürden sind die Üblichen: Sie lebt in einer Männerwelt, in dem Haus eines Filmregisseurs, in dem sich außer ihr nur Kollegen und Bekannte männlichen Geschlechts aufhalten.

Ihre Wanderungen durch Kabul auf der Suche nach Büchern führen sie nun zunächst zu Shah M Book an Co., einem "ikonischen" Laden an einer großen Kreuzung (Charahi Sadarat) zwischen den Regierungsvierteln und der "glänzenden Modernität" des Viertels Sharh-e-Nau.

Taran beschreibt die politischen Graffitti an den Mauern entlang der Straße, die wir auch jetzt wieder im Fernsehen sehen, weil alle neuen Machthaber dort in Farbe ihre Repräsentanten verewigen. Die jeweils Neuen überpinseln die Wand in Weiß und malen dann ihre Gesichter drauf. Nichts ist in Stein gemeißelt, vor allem nicht Ölfarbe. In der Mitte der Straße gibt es einen Grünstreifen mit "Flieger Bäumchen" (plane sapling), für die ich keine Übersetzung finde. Sie ist gesäumt von Copyshops und Fotografen, Zeichen der Zeit, 2006. Welche Läden wären dort heute - wahrscheinlich Internet-Shops. Dahinter: die schneebedeckten Kappen der Berge um Kabul. Rais, der Buchhändler, bei dem sie persische Dichtung im Großdruck für ihren Großvater kauft, schenkt ihr sogar ein Buch.

Als nächstes wandert sie zum Buchmarkt auf dem Koh-e-Asmani, einem Berg mitten in Kabul, wo ein Händler die Bücher all der ausgewanderten Familien sammelt. Er ist zum Verwalter des Vermächtnisses einer bürgerlichen, gebildeten Klasse geworden, die Kabul größtenteils verlassen hat. Baba kommt zurück in die Erzählung, der den persischen Kulturraum verkörpert, der einmal bis ins afghanische/pashtunische Bildungsbürgertum strahlte. Zwei klassische Werke werden genannt, Bostan und Gulistan, geschrieben von dem persischen Sufimeister Saadi von Shiras, der angeblich auch Henry David Thoreau beeinflusst hat. Persische Wurzeln für den angelsächsischen Begründer des nature writings? Und war am Ende auch Gertrude Bell von ihm beeinflusst, die persische Dichtung übersetzte? Beruht das starke Thema des "neuen", "anderen" Sehens im nature writing auf persischen Traditionen?

Durch eine Stadt zu laufen, durch die man eigentlich nicht laufen darf - ist das bereits Wildnis?

<<  Unterhaltsam, humorvoll, lebensklug und von mystischer Inspiration: Seikh Saadi von Shiras lebte im 13. Jahrhundert und war der berühmteste Sufimeister seiner Zeit. Im 'Rosengarten' - seinem Hauptwerk, das zur großen Weltliteratur zählt - führt er den Leser in dichter und poetischer Sprache zu einer feineren und schärferen Wahrnehmung der Wirklichkeit.  >>  Beschreibung der Übersetzung von "Rosengarten" auf Amazon

Heimat im Herzen

>>  The Silence that fell over their rooms extended to my life. Without Baba, I lost my bearings. It was as if I had been describing Kabul for him, and he had been dictating the city for me. Now, I had lost my maps and my stories, my audience and my guide. I had lost the place we had created together.   >>  Seite 216 - 239

Baba hilft ihr, sich zu verorten in ihrer unerklärlichen Sehnsucht nach der weit entfernten Stadt im Krieg und dem Familienzentrum in Indien. Ghareeb in Urdu bedeutet arm, sagt er. Und Ghurbat in Persisch bedeutet weg zu sein vom eigenen Land, in einer Art von Exil oder Entfernung von der Heimat, die auch Armut bedeutet. Arm und im Exil, diese Kombination erkennt Taran im eigenen Leben. Ein Vers wird zur Erklärung zitiert: Sogar im Exil bleiben unsere Herzen in der Heimat; zuhause ist, wo unsere Herzen leben.

Das 13. Jahr

Kabul, 2013: Noch nicht einmal um in ein Restaurant zu gehen, verlassen die expats jetzt den Schutzraum. Die Restaurants sind innerhalb der Mauern in Containern untergebracht, genauso wie alle anderen provisorischen Unterkünfte, die die Nato aufbaut. Die Leute in Kabul witzeln, dass es zu Sowjet-Zeiten wenigstens Plattenbauten waren, die die Stadt verschandelten. Kabul ist zu einer schwer bewaffneten Container-Stadt geworden. Die Afghanen strömen seit Jahrzehnten in die Stadt und wieder hinaus. Die Bevölkerung schwappt mit jeder Wendung des Krieges hin- und her, mal in das Land, mal wieder nach draußen. Diese Migrationsbewegung begann bereits vor 100 Jahren als 1920 der hijrat einsetzte, eine gewaltige Einwanderungswelle, als den Muslimen aus Indien in Afghanistan Religionsfreiheit, Land und Besitz versprochen wurden, allerdings nur kurzfristig. Ganze Dörfer setzten sich in Bewegung, doch dann wurde der Wohnraum und das Land knapp, und der Aufruf gestoppt.

Es ist wahrhaftig kein Buch über die Wildnis, sondern ein wehmütiger, für westliche Leser geschriebener Bericht über ein Volk, das schon vor Jahrhunderten Heimat und Ort trennte, dessen Heimat nur im Herzen angesiedelt blieb. Am Schluss ist auch Baba tot, und die Großmutter, und Taran verliert ihren Kompass für Kabul.

Der Ort, den sie in Shadow City beschreibt, ist keine Reisestory über ein fernes Land, und auch kein Bericht aus der Wildnis. Es erinnert mich an meinen Vater, der ebenfalls im Exil lebte. Nur ersann er gemeinsam mit seinen Enkeln keinen Ort in der verlorenen Heimat. Vielleicht war er zu jung, als er das Land verließ. Wahrscheinlich lebte er nicht lang genug, um ihn seinen Enkeln zu diktieren.

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