Rachel Carson: Magie des Staunens. Originaltitel: The sense of Wonder. A Celebration of Nature
for Parents and Children, HarperCollins Publishers, New York, 1956), übersetzt von Wieland Freund und Andrea Wandel, Klett-Cotta, Stuttgart, 2019
Die Entfremdung von der Natur ist kein Phänomen unserer Zeit. Sie hat sich höchstens noch verstärkt. Bereits in den 1950er Jahren schreibt die Umweltaktivistin Rachel Carson ein Buch, in dem sie erklärt wie Kinder die Natur lieben lernen.
Kurzbiographie
<< Ich bin sicher, kein Drill der Welt hätte diese Namen so fest in seinem Gedächtnis verankert wie ein
einfacher Waldspaziergang zweier Freunde, die auf ihrer Expedition aufregende Entdeckungen machen. >> Seite 13 - 24

Der Lebenslauf auf Wikipedia berichtet, dass Rachel Carson aus einer armen Familie kam. Sie konnte sich das Studium kaum leisten und wurde immer wieder von (männlichen) Mentoren gefördert. Viele ihrer Familienmitglieder erkrankten früh und starben. Sie hatte keine eigene Familie und zog ihren Großneffen Roger auf, nachdem ihre Nichte gestroben war. Von Anfang an waren ihre Tätigkeiten in der Meeresbiologie meist in der Öffentlichkeitsarbeit oder als Redakteurin von Instituts-Magazinen angesiedelt. Sie schrieb viel für Zeitungen nebenher. Dann erschienen ihre ersten Bücher (eine Trilogie) über das Meer und danach, nach vier Jahren Themensuche, eine Streitschrift über die Auswirkungen von Pestiziden auf Säugetiere. Sie starb 1964 mit Anfang 50, einige Jahre bevor das Buch Der Stumme Frühling Anfang der 70er Jahre zur Grundung einer politischen Umweltbewegung und zum Verbot von DDT führte. Ihre Agentin, eine Biografin und die Tochter ihrer Freundin beschäftigten sich posthum mit der Herausgabe ihrer Notizen. Magie des Staunens war 1956 zunächst als Essay erschienen und wurde als Buch herausgegeben. Im Nachwort heißt es, Rachel Carson habe die Umweltbewegung gegründet und sie sei einer der einflussreichsten Menschen des 20. Jahrhunderts. Die Quellen für diese Superlative sind im Buch nicht genannt.
Die Sprache der Vögel
Magie des Staunens ist ein kleines Büchlein mit kurzen Texten und vielen Bildern, von dem nicht ganz klar ist, ob es überhaupt zur Veröffentlichung bestimmt war. Es ist posthum erschienen, und selbst die Widmung wurde von einem unbekannten Nachlassverwalter später eingefügt. Die beiden Übersetzer danken Jonathan Frantzen, der "Deutsch, Englisch und die Sprache der Vögel spricht". Das beruhigt mich, denn mir fiel die Übersetzung der Texte in Homesick schwer.
Die ersten fünf Texte handeln davon, wie Baby und Kleinkind Roger die Sprache der Natur lernt, die Bezeichnungen der Krebse am Strand, der Schnecken und Farne im Wald. Vokabular ist ein unendlich wichtiges Thema in der Naturbetrachtung. Allergings stapelt Carson auffällig tief: Wer hat schon ein Haus direkt am Ufer der Küste und eine Großtante, die jedes Meerestier kennt? Rachel Carsons Sommerhaus ist in Maine. Catrina Davies würde das nicht mögen. Im Zweifelsfall stand das Haus den Rest des Jahres über leer. Aber Magie des Staunens erschien ja auch in den 50er Jahren (als Essay) und nicht 2019.

Die Fichte im Garten
Heute versuche ich gemeinsam mit einem Freund die alte Fichte im Garten zu beschreiben: Knorrig, mit weißen Flechten - nicht Moos! - fällt uns zuerst auf. So sind die unteren Äste. Die buschigen, himmelwärts gerichteten Nadeln an den oberen Astenden finden wir sibrig. Sie recken sich der Sonne entgegen, sagt der Freund und verwirft sogleich seine Wortwahl als zur Romantik des 19. Jahrhunderts gehörend. Heute dürfe man das nicht mehr sagen. Ich widerspreche. Wir überlegen, welche deutschen Schriftsteller des 19., 20. und 21. Jahrundert als sprachliche Vorbilder für die Beschreibung der Natur dienen könnten. Weit kommen wir nicht. Aber wir sind uns einig, das sie helfen würden, unsere Eindrücke ausdrücken zu können. Als ich Magie des Staunens aufschlage, lese ich:
<< Die Nadeln der Immergrünen tragen einen Silberhauch. >> Seite 25 - 46
Und ein Stück weiter über Flechten:
<< Flechten habe ich wegen ihrer Märchenhaftigkeit immer geliebt - Silberringe an einem Stein, seltsame
winzige Muster, die an Knochen oder Hörner oder an die Schale eines Meerestieres erinnern. (...) Bei trockenem Wetter wirkt der Flechtenteppich dünn; er ist spröde und zerbröselt unter den
Füßen. >> Seite 25 - 46

Carson, die studierte Biologin und alleinstehende Frau, hat ein paar Tipps für die Hausfrauen und Leserinnen des Magazins "Womens´ Home Companion". Sie gibt ihnen Tipps, wie sie ihre Kinder an die Wildnis heranführen. Welch` schöne Zeit, als Essays gelehrter Expertinnen noch gut dotiert in Frauenmagazinen erschienen. Mit ihrem Doppetalent, wissenschaftlich zu arbeiten und zugleich lyrisch zu schreiben, hat Carson vermutlich eine neue Tradition im Nature Writing begründet.
Einige Erziehungs-Tipps:
- Kauft eine Lupe um die wundersamen, kleinen Dinge zu entdecken.
- Schaut mit einem Fernglas in einer Oktobernacht den Zugvögeln zu, die vor dem Vollmond vorbeiziehen.
- Der Geruchssinn, oft vernachlässigt, ist der Sinn, der die meisten Erinnerungen auslöst.
Diese kurzen Ratschläge sind jeweils mit einem wunderbaren kleinen Text umrahmt. Im Nachwort sieht man erstmals Fotos der Wissenschaftlerin. Seltsam, wie sie da im Faltenrock die Natur erkundet. Man kann sich kaum vorstellen, dass sie das Meer, dessen Grund und Lebewesen sie in drei Büchern beschrieben hat, als Taucherin studiert. Hat sie aber vielleicht auch gar nicht. Sie war immer vor allem für die PR angestellt. In ihrem ersten Abschluss studierte sie kreatives Schreiben, erst im Master-Studiengang Biologie. Diese Kombi wäre heute wahrscheinlich unmöglich, für Carson (und die Nachwelt) war sie ideal.
Rachel Carson wird im Nachwort von Wieland Freund, einem Welt-Redakteur, explizit in der Tradition des Nature Writing verortet, in einer Linie mit den bekannten (männlichen) Vertretern. Neu ist dort der Name Anna Comstock, die 1911 das Handbook of Nature Study veröffentlichte und eine Bildungswegung in der Theologie des Nature Study anstieß, die vielleicht auch Annie Dillard beeinflusste.
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