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Wyoming: Grüne Venen im offenen Land

Gretel Ehrlich: The Solace of Open Spaces (Viking Penguin Inc., USA, 1985)

Eine Dokumentarfilmerin fährt aufs Land, um zu drehen. Dann stirbt ihr Freund und sie bleibt da. Zum ersten Mal keine Alibis, keine Selbstvermarktung. Sie erwartet, in der Ödnis abzustumpfen und entdeckt, dass der Komfort des Stadtlebens nur das Unbehagen über den Luxus verhüllte.


Kurzbiographie

>>  Friends asked when I was going to stop ´hiding out´ in Wyoming. What appeared to them as a landscape of lunar desolation and intellectual backwardness was luxurious to me. For the first time I was able to take up residence on earth with no alibis, no self-promoting schemes.  >>  Seite 2

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sheridan1.jpg

Gretel Ehrlich scheint mit ihrem Wikipedia-Eintrag nicht einverstanden zu sein; er trägt einen Vermerk, dass schlecht recherchierte Einträge über eine lebende Person sofort entfernt werden müssen, besonders wenn sie möglicherweise rufschädigend sind. Auf ihrer eigenen Seite steht: Sie wurde auf einer Pferdefarm in Kalifornien geboren, ging an die Filmschule der UCLA und schrieb 13 Bücher. Sie war Korrespondentin für National Public Radio im Kosovo, in Afrika und der Arktis. Ihr nächstes Buch wird für 2010 angekündigt, so lange wurde die Webseite nicht mehr aktualisiert. Sie engagiert sich für den Klimaschutz, u.a. mit dem Kunstprojekt "The Ship" der englischen Gruppe Cape Farewell. Auf Wikipedia erfährt man, dass sie 1946 geboren wurde und 1991 nach einem Blitzschlag mehrere Jahre gelähmt war. Leider hat sie kein Buch über ihre Erfahrungen in Afrika geschrieben.

Ein neues Projekt

Ich sitze auf der kleinen Holzterrasse vor meiner Weinberghütte und schaue in das gebogene Unstrut-Tal. Gegen Abend ist die Sonne heraus gekommen. Ein Streifen Himmel ist blau, dahinter ballen sich die Wolken zu einer geschlossenen, dunkelgrauen Decke. Das nächste Gewitter zieht heran, und ich bin nervös.

Getel Ehrlich hat zu diesem Thema etwas zu sagen. Zu den Umwegen, die ein ganz direkter Plan manchmal nimmt. Natürlich ist der Umweg der eigentliche Weg, werden die zufälligen Abweichungen in ihrem Schreiben zum eigentlichen Erzählstrang. Das hat sie vorher auch nicht gewusst. Das schreibt sie erst nachher, im Vorwort. Wahrscheinlich ist ihr selbst aufgefallen, dass ihr Buch chronologisch wild durcheinander geht. Wer sich an solchen Details stört, ist ein Spießer.

Auf, Gretel, lass dich nicht entmutigen von deinen Freunden, die finden, dass Wyoming intellektuell rückständig und von der Trostlosigkeit eines Mondes sei.

Für dich ist es Luxus, dass du endlich einmal frei bist von den Ansprüchen der Intellektuellenszene der Westküste: der Eigen-PR, der Selbst-Optimierung. Und für mich auch.

 Schon im ersten Kapitel finde ich Wortschöpfungen, von dir, die so schön sind, dass sie Geschichte gemacht haben. Ich will sie sammeln wie Muscheln am Strand. Hier sind die ersten zwei:

- lunar desolation

 - lessons of impermanence

 das eine wird Bandname, das andere der Titel eines Buches.

Vorhang auf für das offene Feld

<<  In dieser Art von offenem Land zu leben und zu arbeiten, mit seinen 100-Meilen-Sichtachsen, heißt die Unterscheidung zwischen Vordergrund und Hintergrund zu verlieren. Als ich einen alten Landarbeiter fragte, wie er Wyomings Weite (openess) beschreiben würde, sagte er: es ist alles ein Haufen gar nichts - Wüste und Klapperschlangen - und so viel davon, dass du nicht sagen kannst, wohin du gehst, woher du kommst. Es macht keinen Unterschied.   >>  Seite 6- 16

<<  To live and to work in this kind of open country, with its hundred-mile views, is to lose the distinction between background and foreground. When I asked an older ranch hand to describe Wyoming´s openness, he said, `It´s all a bunch of nothing - wind and rattlesnakes - and so much of it you can´t tell where you´re going or where you´ve been and it don´t make much difference.   >>  Seite 6 - 16

Am frühen Morgen steht Nebel im Tal zwischen meiner Hütte und der Neuenburg. Das Unstruttal auf der Gegenseite ist in goldene Morgensonne getaucht. Ich gehe nach draußen, schaue in alle Richtungen, dann lege ich mich wieder hin. Ich habe gut geschlafen, nur einmal bin ich schweißgebadet aufgewacht.

Wenn Proust die Kirche St. Hilaire über Seiten beschreibt, oder den Geschmack der Madeleine, oder die Stimme seiner Mutter, dann weil er die Realität hinter den Dingen sucht. Er will Realist sein, und nimmt doch die Wirklichkeit durch und durch über Assoziationen wahr, auf der mentalen, geistigen Ebene. Deshalb gilt er als Vorläufer des Hypes um Siegmund Freud.

Das tut Gretel auch. Ihr Landschaft ist so abstrakt, dass sie zu Raum ohne Vorder- oder Hintergrund wird, zu Trost.

Der Himmel hängt in der Morgendämmerung grau bis ins Tal, später soll es regnen.

Es wäre blöd zu denken, dass Gretel das Leben in der Wildnis zugeflogen ist. Ihr Bericht beginnt in Verzweiflung. Die Hose friert am Sattel fest, die Schafe laufen ohne sie los, die Landschaft, gerade noch gewaltig und tröstlich, verhärtet sich zu einem Verließ des Raums. In dieser Kälte, in der sie weder denken noch handeln kann, in diesem grenzenlosen Schweigen fühlt sie sich wie der erste Mensch. Oder der letzte. John, ein Schäfer, den sie kennenlernt, ist natürlich groß und ansehnlich. Das perfekte Gegenbild zu der frierenden Reiterin. Er hat eine biologische Intuition für Schafe und Menschen. Er ist eben auf einer Ranch aufgewachsen. Immer gibt es so einen John, der neben uns steht. Der - attraktiv, klug, verwurzelt, all die Aufgaben mit Leichtigkeit schultert, an denen wir gerade zu scheitern drohen.

John, der makellose Schäfer, ist Gretels Rettung. Er gibt ihr sofort Arbeit. 14 Tage lang scheren sie 14 Stunden am Tag tausende Schafe, und als sie damit fertig sind, ist Gretel nicht mehr gefühllos, wie sie es erwartet hat. Statt sich in dem menschenleeren und neuem Gebiet zu verlieren, ist sie wach. Die Lebenskraft der Menschen, mit denen sie arbeiteitet, hat alles aus ihr herausgespült, was halluzinatorisch und roh war. Die Gleichgültigkeit der Landschaft beruhigt sie, das trockene Land ist wie eine fleckenlose Weste.

Jetzt ist es der Nachthimmel, der halluzinatorische Wirkung auf sie hat. Sechs Meilen in die Wildnis hinein sieht sie zwei Wochen lang keinen Menschen, während die Satelliten über ihr die Erde umrunden.

Scrabble mit dem Hund

Ich bin zurück in Leipzig, habe ein langes Bad genommen, Spinnweben, Milben, und anderes eingebildetes Ungeziefer abgewaschen und mich einen ganzen Tag in geschlossenen Räumen aufgehalten.

Gretels erstes, zweites, fast alle, Kapitel enden mit Mediationen über die Weite (space). Später einmal, mutmaßt sie, reisen ihre Enkel ins All, um einen Herzinfarkt zu kurieren. Aber Raum kuriert auch näher am Wohnort. Wenn wir lernen, Weite in uns zu tragen so mühelos wie unsere Haut, dann glaubt sie, wird die innere Weite zur mentalen Gesundheit. Das Leben ist nicht mehr steril, langweilig oder entrückt, sondern eins, das intelligent jede Idee und Situation aufnehmen kann.

Um das zu lernen, geht sie in die Wildnis. Nicht nur auf eine Farm in Wyoming, mit dem weiten Horizont vor Augen, mit täglicher, harter Arbeit von 14 Stunden am Tag, in denen sie querliegenden Kälber auf die Welt bringt, sie mit einer Kollegin an den Hinterhaxen hält, bis es anfängt zu schnaufen. In denen sie zur Lammzeit Ende Februar bis April 15000 lammende Mutterschafe versorgt und ihre Lämmer einige Monate später auf Lastwagen schafft, mit denen sie abtransportiert werden. Sie zieht sich zurück in eine Blockhütte im Wald, das erste Mal mit ihrem Freund (Mann) David, der bald darauf stirbt. Das zweite Mal zwei Jahre später, mitten im Winter 1978, der einer der härtesten in Wyoming seit Beginn der Aufzeichnungen werden sollte. Selten stiegen die Temperaturen über Null Grad. Die Blockhütte mit nur einem Raum an der Nordgabelung des Shoshone Flusses fühlt sich mehr und mehr wie ein Wald an, der um sie gezogen wurde. Abend für Abend spielt sie Scrabble mit ihrem Hund Rusty, der immer gewinnt. Außen an der Hütte türmt sich der Schnee zu zwei riesigen Schulterpolstern auf.

Durch diese staubtrockene Landschaft läuft im Frühling das Wasser wie Blut. Es durchzieht das triste Land wie grüne Venen. Eine Pappelreihe folgt dem Strom, ein Streifen Jasmin, und in den Gräben wächst wilder Spargel.

Die Weite und Leere täuscht: Längst ist das Land nicht mehr offen für Siedler und ihre umherziehende Rinderherden. Stracheldraht durchzieht die schönsten Täler, Berge, Wüsten und Weiden mit Buffalo-Gras. Wenn ein Neuer kommt, wie John Tisdale, ein College-Absolvent, der seine Rinder von Texas nordwärts treibt, wird er in den Rücken geschossen.

Die Kunst zerbrechlich zu sein

<<  Ich dachte: zäh sein ist zerbrechlich sein; zart sein ist wahrhaft kämpferisch sein.

I thought: to be tough is to be fragile; to be tender is to be truly fierce.  >>  Seite 45 - 57

Ausgerechnet Ellen, die Enkelin von Ralph Waldo Emerson, Urvater des amerikanischen Nature Writings, ruft sie eines Abends an und macht ihr Mut. Ich war immer davon ausgegangen, dass sie übernatürliche Reserven der Ausdauer besaß. Aber sie protestierte:

<<  Ich stelle mich dabei nicht gerade gut an`, sagte sie bescheiden. `Ich kriege diese Laune, wo ich alles hamstere und werde wütend mit mir selbt über die dummen Dinge, die ich tue. Dann nehme ich das alte Kaleidoskop in die Hand und schüttle es. Und sieh´ da, es ist unmöglich, nur ein Ding im Blick zu behalten. Es macht den Weg frei für andere Sachen, und sie sind alle wunderschön.   >> Seite 45 - 57

Die Zähigkeit, die Ausdauer (toughness) sind für Gretel Ehrlich keine sich selbst zerfleischende Verbissenheit, kein tumbes Heldentum. Sondern die Kunst zurechtzukommen (to make do).

Ordnung machen

Ich will Ordnung in Gretels Chaos bringen. Das Buch ist in sechsjährigen Stops and Gos entstanden, und das merkt man auch. Ein Blog hätte geholfen, Ordnung in ihre Zeitabläufe zu bringen. Aber sie hat es später aus Briefen an eine Freundin zusammengestellt, die sie während ihrer Zeit in Wyoming schrieb. Sie behauptet, es sei chronologisch geordnet, aber das ist eine Farce. Teile sind vorab in Zeitschriften wie The Atlantic, The New York Times, New Age Journal erschienen. Um exakte Daten geht es ihr ohnehin nicht: Es geht um das Wesen der Erde, um Wetter, Licht, Wind, Zeitlosigkeit und dem Hunger nach Leben.

Im Vorwort erfahren wir ein bisschen mehr ÜBER die Autorin.

Kapitel 1 (The solace...): zeitlos, "Es ist Mai, ich kam vor vier Jahren hierher."

Kapitel 2 (obituary): zeitlos, ein Jahr im Ablauf der Schaffarmen. Ende Februar beginnt die Lammsaison und dauert bis April. Danach werden die Herden in Trucks zu ihren Frühlingsweiden gebracht. Im Mai erblühen die Weiden. Zwischen Ende Juni und 4. Juli werden die Schafe wieder neu verortet, diesmal auf die Berggipfel und Almen. Ende August werden sie wiederum von Trucks abgeholt, und im September sind die Mutterschafe wieder auf den Little Mountains, wo immer das ist. Zwischen diesen Eckpunkten widmet sich Gretel vor allem der Beschreibung der Charaktere, die mit ihr arbeiten.

Kapitel 3 (other lives): jetzt erst setzt die Handlung chronologisch ein. 1976 reist sie nach Wyoming, um in den Big Horn Mountains vier Monate lang, von Juni bis September einen Film über Schäfer zu drehen - solch aufwändige Recherchen wurden damals von Fernsehsendern bezahlt. Ihr Partner und Kollege David (the man I loved), kann da schon nicht mitdrehen. Er hat eine tödliche Krebsdiagnose bekommen.

"Vorher, im Frühling" lochen sie sich in einer fensterlosen Hütte in einem Wald mit Birken, Lärchen und Buchen ein. Sie essen rohes Gemüse und trinken Bier, sie hören Beethoven. Im Juni kommt David abermals, aber nach zehn Tagen werden die Schmerzen so stark, dass er abbricht und nach Hause zurückkehrt. Ende September bucht sie einen Flug, um ihn noch einmal zu sehen, aber es ist zu spät. Sie geht nicht zu seiner Beerdigung, sondern zu der von Keith in Wyoming. Die Tränen kommen verspätet und bleiben zwei Jahre, in denen sie reist.

1978 kommt sie zurück nach Wyoming, hilft einen Sommer lang auf den Farmen und zieht sich einen Winter lang in eine Blockhütte am North Fork (nördlichen Arm) des Shoshone Flusses zurück.

Im Juni (1979) zieht sie wieder um, in die nahgelegene "Stadt der 50" (Einwohner). Sie hat sich entschieden, in Wyoming zu bleiben.

Die folgenden Kapitel sind oft nur ein paar Seiten lang und behandeln Episoden (Rodeo, drei Tage auf einer Schaffarm), Notizen und einzelne Beobachtungen. Daher nehme ich sie in den Blog nicht auf.

Das letzte Kapitel lautet: A storm, a cornfield, and an elk (Ein Sturm, ein Maisfeld und ein Elch). Es ist das furiose, unübersetzbare, lyrische Ende der Saison unter den Cowboys. Jedes Wort ist ein Gedicht, jede Zeile ein Bild, das zärtlicher, empfindsamer, phantasievoller nicht sein kann. Selbst den Mutterkühen, denen die Kälber weggenommen werden, wendet sie sich zartfühlend zu. Sie weinen um ihre Kinder, verstecken ihre Trauer nicht, sie versammeln sich um die Trucks, in denen ihre Kleinen abtransportiert werden in einem kollektiven Gebrüll.

Die grüne Leiter des Sommers hinunter

<<  Last week a bank of clouds lowered itself down summer´s green ladder and let loose with a storm.   >>  Seite 161 - 167

As the storm blows east towards the Dakotas, the blue of the sky intensifies. It inks dry washes and broad grasslands with quiet. In their most complete gesture of restraint, cottonwoods, willows, an wild rose engorge themselves with every hue of ruddiness - russet, puce, umber, gold, musteline - whose spectral repletion we know also to be an agony, riding oncoming waves of cold. seite 161 - 167

Während der Sturm nach Osten in Richtung Dakotas zieht, intensiviert sich das Blau des Himmels. Er färbt trockene Wäsche und weite Graslandschaften mit Ruhe. Pappeln, Weiden und Wildrosen schmücken sich mit allen Schattierungen von Rotbraun, Purpur, Umbra, Gold und Mousseux, deren gespenstische Überfülle wir auch als Agonie empfinden, die auf den nahen Wellen der Kälte reitet. Seite 161 - 167

There is neither sun, nor wind, nor snow falling. The hunters are gone; snow geese waddle in grain fields. Already, the elk have startet moving out of the mountains toward sheltered feed-grounds. Their great entlers will soon fall off like chandeliers shaken from ballroom ceilings. With them the light of these autumn days, bathed in what Tennyson called `a mockery of sunshine`, will go completely out. seite 161 - 167

Es gibt weder Sonne, noch Wind, noch fällt Schnee. Die Jäger sind weg, Schneegänse watscheln in den Getreidefeldern. Die Elche haben bereits damit begonnen, aus den Bergen in Richtung geschützter Futterplätze zu ziehen. Ihre großen Entler werden bald abfallen wie Kronleuchter, die von der Decke des Ballsaals geschüttelt werden. Mit ihnen wird das Licht dieser Herbsttage, die in etwas getaucht sind, das Tennyson "eine Verhöhnung des Sonnenscheins" nannte, völlig erlöschen. seite 161 - 167

Außensicht

<<  The female Writers of the twentieth century carry the legacy of the great naturalists of the nineteenth. They are the leading voices of their time in encouraging people to love, and conserve, the wild.   >> 
Amy Liptrot, im Vorwort zur Neuauflage von The Solace of Open Spaces, 2019

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